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Curso de alemán nivel medio con audio/Lección 058c

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Das Cover des Buches
Quelle für den Text der Lektionen 051c bis 063c Lektionen ist das Buch
Alles über Wikipedia und die Menschen hinter der größten Enzyklopädie der Welt
Das Buch erschien unter einer freien Lizenz (Creative Commons Attribution-ShareAlike 3.0 Unported, CC-by-sa).
fuente: Allesueberwikipedia.pdf - CC-BY-SA Creative Commons Attribution-ShareAlike 3.0 Unported, CC-by-sa - CC-BY-SA
Inhalt
Inhalt
VORWORT 9
EINLEITUNG 11
DIE ENTSTEHUNG DER DEUTSCHEN WIKIPEDIA 15
Von Nupedia zu Wikipedia:Wie alles anfing ... 15
Odyssee ins Jahr 2001: Die Anfänge der deutschen Wikipedia 23
Ein Blick zurück von der anderen Seite der Diskette 31
Zehn Jahre Wikipedia: Meilensteine 35
Der millionste Artikel für die deutsche Wikipedia 41
Wikipedia: Eine kritische Sicht 43
DIE WIKIPEDIA-ARBEIT 47
Grundkenntnisse 47
Was braucht ein »guter« Artikel? 59
Ein Begrüßungslöschantrag 63
Von der IP zum Bürokraten: die »Karriere« eines Wikipedianers 64
Da kann ja jeder reinschmieren! 67
Wo erhalten Benutzer Hilfe und Unterstützung? 71
WIE GUTE ARTIKEL ENTSTEHEN 81
Die Qualität von Wikipedia: Anspruch und Wirklichkeit 81
Geständnis eines Kleinvandalen 100
Die Zebrarennschnecke:Vom Kindermund zum enzyklopädischen Artikel 101
Wer rastet, der rostet 104
Listen über Listen 105
Nicht zu benutzen 107
Wikipedia organisiert 108
Schon gewusst? - oder: Wie kommt man flott auf die Hauptseite? 115
Masse mit Klasse 118
Die Todesopfer an der Berliner Mauer 121
MOTIVATION: FREIWILLIG FÜR FREIES WISSEN 125
Unverhofftes Wiedersehen 125
Von Metzgern und Schlachtern - oder: Wenn's sonst keiner macht ... 127
Wikipedia-Mitarbeit hält die Festplatte am Drehen 130
Der Traum von einer eigenen Enzyklopädie 131
»Wikipedia and I« 133
Wikipedia - der erste Schuss ist gratis 138
Damenfang 140
Wikipedia: Ein persönlich gefärbter (was sonst?) Erfahrungsbericht 141
Warum ich immer noch mitspiele 144
Der Büchermessie 147
Wikipedia-Momente 149
KOMMUNIKATIONSKULTUR 151
Möglichkeiten und Grenzen demokratischer Strukturen in derWikipedia 151
Wissen ist Macht 162
Exklusionisten gegen Inklusionisten ein enzyklopädischer Bruderkrieg 164
Exklusionismus: In den Maschinenräumen von Wikipedia 173
Inklusionismus: Mehr Toleranz! 178
Mit 80 + dabei 182
DIE DUNKLE SEITE DER WIKIPEDIA 187
Am Anfang war der Streit 187
Kaffeeservice und Bügelbrett: Von der Wikipedia ohne Umweg in die Köpfe 210
Aus der Löschhölle an die Wand 214
Von der »Hassenstein-Debatte« zu allerlei Erfreulichem 216
Trollosophie 222
DIE WISSENSCHAFT ZU WIKIPEDIA 225
Wikipedistik 225
Wikipedia als Forschungsobjekt 241
Die Wikipedia als Werkzeug für individuelle und kooperative Lernprozesse 243
Verborgenes Wissen in Wikipedia 246
Die Enzyklopädie und der Elfenbeinturm - wie Wikipedia und Wissenschaft zueinander finden können 247
»Sag bloß keinem, dass du da mitmachst!« 266
Durch Kooperation zum Erfolg: Die Johann-Heinrich-ZedlerMedaille 268
Wikipedia und Wissenschaft aus der Sicht der Akademieforschung 269
Einstieg mit Hürden 273
Wikipedia als Lebensweise 274
Wikipedia und Speziallexika im Wettstreit 276
DIE TECHNIK HINTER WIKIPEDIA 283
MediaWiki - oder: Das Web 0,0 283
Hardware: Betrieb der Wikipedia 295
Das Werden und Wachsen der Helferlein: Bots, Skripte und Werkzeuge 300
AUSBLICK: WIKIPEDIA 2021 311
ANHANG 327
Glossar: Wikipedia-Jargon für Anfänger 327
Die Autoren 333
Creative Commons License 344



MC351 - MC360

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MC351

DIE DUNKLE SEITE DER WIKIPEDIA
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Am Anfang war der Streit
VON BENUTZER:SCHLESINGER
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»Ursprünglich war die Wikipedia von Larry Sanger als Spaßprojekt neben der Nupedia angekündigt worden. Dank ihrer Offenheit jedoch entwickelte sich die Wikipedia - zur Überraschung von Sanger und Jimmy Wales - so schnell, dass durch sie die Nupedia in den Hintergrund rückte und im September 2003 ganz verdrängt wurde.« So steht es im Artikel über die Wikipedia in der Wikipedia. Ein langer Konflikt nahm seinen Anfang, Larry wurde als Chefredakteur der elitären Nupedia - »Autoren mussten sich bewerben und ihre Texte anschließend ein Peer-Review-Verfahren durchlaufen« - 2002 gefeuert, zog sich schmollend zurück und verfolgte eigene Projekte. Was der Wikipedia blieb, war der bis heute andauernde Konflikt zwischen den sogenannten Inklusionisten, den Messies der Wikipedia, wie sie einmal von einem Autor genannt wurden, den Exklusionisten und den Deletionisten.



MC352

Vokabeln:


MC353

Abspaltungen und Forks
Schon im Sommer 2004 hatte der Wikipedia-Admin Ulrich Fuchs die Nase von der Wikipedia voll. Wutentbrannt schrieb er: »Der Mob hat das Projekt mittlerweile übernommen und steuert es unwidersprochen auf das Restniveau des Internets herab. Die Admins schlafen den Schlaf der Gerechten. Sie schauen tatenlos zu, während die Wikipedia mit unsinnigsten Platzhalterartikeln zugemüllt wird.« Diese Platzhalterartikel sind übrigens die sogenannten Stubs (Stummel), ein- oder zweisätzige Texte, die einen Ausbau zu einem richtigen Artikel durchaus vertragen würden und heute noch zu Hunderten vorhanden sind. Fuchs gründete 2005 seine eigene Enzyklopädie »Wikiweise« und Larry Sanger 2006 sein Projekt »Citizendium«. Beide Projekte vermochten es nicht, der Wikipedia ernsthaft Konkurrenz zu machen. Im Laufe der Jahre kamen und vergingen viele dieser Abspaltungen, ihre Namen sind vergessen, ebenso ihre Autoren.


MC354

Vokabeln:


MC355

Preisverleihung
In vielen Städten und Regionen gibt es Wikipedia-Stammtische, bei denen sich Wikipedianer im realen Leben friedlich treffen. Jeder ist willkommen. Jeder? Nicht ganz. Im Ruhrgebiet war es im Sommer 2005 alles andere als friedlich. Es ging darum, wer bei der Verleihung des Medienpreises Grimme Online Award die Wikipedia vertreten sollte, und vor allem, wer nicht. Am 19. Juni 2005, es ist ein heißer Frühsommertag mit Temperaturen um die 30 Grad, treffen sich gegen Mittag neun Wikipedianer aus dem Ruhrgebiet zu ihrem siebten Stammtisch in einem etwas teureren Restaurant im renovierten Bahnhofsgebäude von Essen-Kupferdreh. Man sitzt im Biergarten und unterhält sich über die neuesten Dinge in der Wikipedia. Manche gehören zu den Eisenbahnfreunden, die Eisen- und Stahlfraktion ist dabei, aber auch Biologen und ein Filmfachmann. Das beherrschende Thema ist jedoch der Grimme Online Award 2005, den die Wikipedia eine Woche vorher zugesprochen bekommen hat. Man ist sauer darüber, dass sich die Berliner Wikipedianer vom Verein Wikimedia Deutschland e.V. bei der Auswahl der Teilnehmer zur Preisverleihung im nahe gelegenen Grandhotel Schloss Bensberg etwas zu hemdsärmelig und unfreundlich verhalten hätten, die Ruhrgebietler wären auch gern dabei gewesen. Einer von ihnen schrieb daraufhin: »Der Verein ist zur Zeit kein gern gesehener Gast beim Revierstammtisch. Wenn dennoch Mitglieder meinen, sie müssten uns mit ihrem Besuch beehren, könnte es leer werden.« Die Stimmung auf dem schattenlosen ehemaligen Bahnsteig wird emotionaler. Man bestellt sich weitere Getränke und redet sich in Rage. Bei einigen entsteht in diesen Stunden ein Feindbild, der Verein. Sie begannen sich deshalb vom Verein zu distanzieren, man schrieb auf seine Benutzerseite: »Ich definiere mich als unabhängiger Wikipedianer und fühle mich von Wikimedia Deutschland e.V. nicht vertreten.« Ein Konflikt war geboren, der bis heute nicht ausgestanden ist und unter anderem dazu führt, dass der Verein auch heute noch bei jeder sich bietenden Gelegenheit aus den verschiedensten Gründen vehement kritisiert wird. Von den damaligen Teilnehmern an jenem Treffen sind nur noch vier im Projekt aktiv.


MC356

Vokabeln:


MC357

Das Narrenschiff
Wie viel Kritik verträgt Wikipedia? Wer darf sie kritisieren? Wer nicht? Bestimmte Namen erzeugen bei bestimmten Wikipedianern merkwürdige Reflexe. Die Grenze zwischen einem produktiven, aber kritischen Autor und einem Troll kann unscharf sein. Es gab einige Fälle, in denen eigentlich ganz nette Autoren sich aus unerfindlichen Gründen gegen das Projekt und seine exponierten Vertreter, die Admins, stellten. War eine Demütigung der Grund, eine als ungerecht empfundene Sperre? Eine alte Wikipedia-Weisheit besagt: »Wikipedia züchtet sich selbst die Trolle, die sie verdient.« Bei Hans Bug jedoch lag die Sache etwas anders, er war ein besonderes Phänomen, denn er gab ein eigenes Magazin innerhalb der Wikipedia heraus, Das Narrenschiff. Außer einer Nullnummer erschienen von April 2005 bis Anfang 2006 fünf Ausgaben, die die Wikipedia-Autorin Elian aufgehoben hat. Wer war dieser Hans Bug?
Am 28. Dezember 2004 um kurz vor halb elf Uhr abends meldete sich in der Wikipedia ein Hans Bug an. Er legte eine Benutzerseite an, auf der er diese fünf Wörter eintrug: »Hans Bug, Student der Theologie«. Er fing mit zwei kleinen ArtikelEdits an. Für seine vierte Bearbeitung am nächsten Morgen nahm er sich jedoch zielstrebig den Artikel »Demokratie« vor und fügte diese beiden Sätze ein: »In einer Demokratie verläuft die politische Willensbildung von unten nach oben, wird also aus der Mitte der Bevölkerung an die Eliten getragen. In einer Diktatur ist dies genau umgekehrt, hier wird die politische Willensbildung von einer Elite der Bevölkerung manipulativ aufoktroyiert.« Genau diese beiden Sätze wurden später die Grundlage zu seiner schonungslosen Wikipedia-Kritik. Doch noch war es nicht so weit. Er editierte erst einmal in Artikeln zur Bildenden Kunst, aber schon Anfang Februar 2005 begab er sich erstmalig in den Wikipedia-Metabereich. Das sind die Seiten der Wikipedia, auf denen über Artikellöschungen, Benutzersperren, Beschwerden über Admins, allgemeine Konflikte und Ähnliches diskutiert wird.



MC354

Vokabeln:


MC355

Er begann zunächst mit Verbesserungsvorschlägen. Dann fing er an, erst vorsichtig, später nachdrücklicher, seine Kritik zu formulieren. Er wollte eine Art Benutzerbefragung einführen, aber die Seite wurde nach einer Löschdiskussion gelöscht, die Gemeinschaft sah dafür keinen Bedarf. Auch formulierte er sogenannte Autorengrundrechte, doch auch hierfür war die Zeit noch nicht reif. Hans begann - für einige User auch wegen seiner leicht langatmigen Ausführungen - allmählich lästig zu werden. Seine erste Sperre, eine Stunde, verpasste ihm der damals schon umstrittene Admin Skriptor, es folgten noch 35 weitere bis zum Ende im Juni 2006. Es sieht ganz danach aus, als habe Hans Bug einen Wandel durchgemacht. Die Artikelarbeit trat in den Hintergrund, denn seine wahre Berufung war sein Narrenschiff, in dem er immer eifriger gegen die AdminHerrschaft in der Wikipedia schrieb - oder besser predigte? Die ersten Nummern waren durchaus informativ und in ihrer Kritik an den Wikipedia-Strukturen nachvollziehbar, aber gegen Ende erlosch die Vernunft im Dunkel des Hasses. Hans Bug war im Selbstmitleid angekommen und sah sich als Opfer der herrschenden Wikipedia-Klasse. Er war aber auch Werkzeug unterschiedlicher, bis heute bestehender Fraktionen in der Wikipedia. Es hrauchte vier Sperrverfahren, um ihn loszuwerden, er hatte bis zum Schluss Unterstützer, auch unter den Admins, aber bei einigen ehemaligen Wohlwollenden schlug die Zuneigung um, man war seiner überdrüssig. Hans Bug wurde im Juni 2006 geteert und gefedert.


MC356

Vokabeln:


MC357

Das Universum schlägt zurück
Homer Simpson hatte eine schwere Kindheit. »Sein Vater erzog ihn streng und schärfte ihm eine Verliererhaltung ein. Homer war schon zu Highschool-Zeiten faul, vergnügungssüchtig und desinteressiert an Politik und Weltgeschehen (etwa an der Mondlandung). Obwohl die Figur immer wieder durch eher geringe Intelligenz, Faulheit und Egoismus auffällt, hat er auch geniale Momente.« So steht es im Artikel über ihn in der Wikipedia. Wie viele Artikel über die Charaktere der Simpsons, so war auch dieser nicht unumstritten. Noch im März 2010 schrieb ein aufrechter Enzyklopädist: »Ich beantrage hiermit eine Löschung mangels Relevanz. Danke.« Dem wurde zwar nicht entsprochen, aber die Versuche, allzu detaillierte Artikel über Fiktives aus der Wikipedia zu verbannen, ziehen sich wie ein roter Faden durch das Projekt. Schon im September 2003 kassierte Homer seinen ersten Löschantrag, ähnlich erging es Lisa, Marge und auch Bart. Selbst Moe und Krusty mussten dran glauben und verschwanden in einem öden Sammelartikel. Uli, der wikiweise Fuchs, schrieb: »Das muss definitiv unter einem Artikel zusammengefasst werden oder rausfliegen.« Daraufhin maulte eine IP: »In der englischen Wikipedia werden über 30 Figuren aus den Simpsons mit eigenen Texten verlinkt.« Ein bekennender Inklusionist meinte: »Also ich habe in Wikipedia schon mehr Schrott gefunden - diesen Beitrag finde ich nicht einmal so schlecht. Etwas unlexikalisch vielleicht, aber ich kann mir Lisa jetzt gut vorstellen.«



MC358

Vokabeln:


MC359

So ging es eine Weile hin und her. Hin und wieder kamen auch konstruktive Vorschläge zur Artikelverbesserung. Im Sommer 2006 war die Zeit dann reif für eines der gefürchteten Wikipedia-Meinungsbilder. Es sollte die Frage geklärt werden, ob Fiktives in der Wikipedia einen Platz hat oder nicht. Vorhergegangen waren zahlreiche Löschanträge, die der WikipediaFancruft-Fraktion stark zusetzten. Betroffen waren selbst fiktive Personen wie »Harry Potter« und die »Völker und Gruppierungen aus Star Wars«, aber auch innovativ Technisches, wie »Raumschiffe und Technik aus den A/few-Filmen«, »Technik bei Star Trek«. Auch Fahrzeuge und Waffen jener Universen: »Raumschifftypen aus Star Wars« und »Lichtschwert«. Selbst naturwissenschaftliche Aspekte fielen dem Löschwahn zum Opfer: »Star Trek und Physik«, »Sternzeit (Star Trek)«. Als dann auch noch der niedliche »Pikachu« und andere Pokemons dran glauben mussten, war das Maß voll.
Das Meinungsbild mit Abstimmung war zwar etwas unübersichtlich, aber das sind ja die fiktiven Welten schließlich auch. Eine der 86 Stimmen, die für Einzelartikel zu jedem Charakter, zu jedem Detail plädierten, schrieb treffsicher: »viele dinge (uboot, flugzeug, internettelefonie) gab es erst nur in der fiktiven weit und wurden dann erst in der realen nachgeahmt. — Es gibt viel zu tun - lesen wirs durch!! [in Übereinstimmung mit der profezeiung]«. Dass sich unter den 93 Ablehnungen des Meinungsbildes auffallend viele damalige Admins befanden, verwundert nicht, waren sie doch per se die Feinde des Fiktiven und sahen die Wikipedia qualitätsmäßig vor die Hunde gehen. Einer schrieb unter gezielter Verwendung eines Erikativs: »Uuuargh, wann wird man je verstehen, dass es nicht um >Relevanz< geht, sondern um Qualität?« Ein anderer Admin befand: »Es schnurzpiepwurscht, ob der Inhalt eines Artikels fiktiv oder real ist.« Nun ja. Sollte da wieder der Donaldismus zugeschlagen haben? Räselhafte Wikipedia. Nach einem Monat war der Spuk zu Ende. Vorher gab es noch einen kleinen Edit-War zwischen den üblichen Verdächtigen, ob das Meinungsbild noch läuft oder zu Ende war, doch im Endeffekt hatten sich die Ablehner nicht durchgesetzt, Fiktives war für die Wikipedia salonfähig geworden.


MC360

Vokabeln:


MC361 - MC370

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MC361

Exkurs - Der erste Artikel
In der Steinzeit der Wikipedia war die Anzahl der Artikel noch sehr übersichtlich. Viele von ihnen waren, wie schon erwähnt, als Stubs angelegt worden, also Texte, die nur aus ein, zwei nicht immer vollständigen Sätzen bestanden. Man hätte zwar auch schon damals gern etwas mehr Substanz gehabt, aber was sollte man tun? Erst nach und nach kamen neue Autoren hinzu, die dann auch ausführlichere Texte zu schreiben begannen. Wikipedia wuchs und konnte den gedruckten Enzyklopädien allmählich etwas entgegensetzen. Stubs sind heute verpönt - wer, besonders als Wikipedia-Neuling, neue Texte dieser Art verfasst, hat sehr schnell einen Löschantrag für sein Werk und wird manchmal massiv von den Exklusionisten angegriffen. Konflikte wegen dieser Stubs haben nicht selten zu erbitterten Wortgefechten geführt. Zahlreiche angesehene Autoren haben in der Urzeit jedoch selbst viele solche Artikelchen produziert, aber wohl ihre Anfänge etwas aus den Augen verloren.
Der Autor Hans Koberger hatte die Idee, einmal nachzuschauen, was unsere enzyklopädischen Koryphäen als Erstlingswerke der Öffentlichkeit einst präsentierten. Dabei waren kuriose Dinge, von deren Existenz nur ein kleiner eingeweihter Fankreis wusste, beispielsweise »Donaldismus«.3 Auch litt unter heutigen Gesichtspunkten hin und wieder die deutsche Sprache unter dem Eifer der frühen Autoren. Großwerke der Gattung waren unter anderem die »Albert-Ludwigs-Universität Freiburg«: »Sehr geehrteR Leserin, wie Sie unschwer erkennen können, ist dieser Artikel noch nicht fertig, sehr guter englischer Artikel ist nur noch zu übersetzen An der Universität haben unter anderem gelehrt: Martin Heidegger studiert: Rezzo Schlauch.« Die persönliche Anrede des Lesers war in jener Zeit übrigens weit verbreitet.



MC362

Vokabeln:


MC363

Ein schönes Beispiel ist auch der »Kummerkasten«: »Der abstrakte Begriff Kummerkasten ... Moment, geht gleich weiter ...« - so lautete die erste Version vom 16. Mai 2006, die der Autor Nachtagent um 21.31 Uhr in die Wikipedia entließ. Um 3.17 Uhr des nächsten Tages bestand der Artikel schon aus mehreren Absätzen, aber mit sehr eigenwilligem Layout. Schwarze Schrift auf grauem Grund mit dickem schwarzem Rand ließ eher auf eine Todesanzeige oder Parte schließen als auf einen Kummerkasten. Meinte der Autor womöglich einen Sarg? Auch die erste Version über die Actinoide genannten chemischen Elemente ist lesenswert: »Die 14 Elemente, die im Periodensystem auf Actinium folgen. Mit Actinium zusammen bilden sie die Actinide.« Nur aus zwei Weblinks bestand die exzellente erste Version des Artikels über den Maschinenbaukonzern MAN vom 31. Januar 2003: »Links: *http:/www.man.de MAN Homepage *http:/www.man-nutzfahrzeuge.de Die MAN Nutzfahrzeuge AG.« Auch die heute so berüchtigten sogenannten Ortsstubs gab es schon von Anfang an. Ein typischer Vertreter ist die wichtige Gemeinde »Kirchdorf (bei Sulingen)«. In der Version vom 13. Oktober 2004 sah der Text zum Lemma so aus: »Kirchdorf ist eine Gemeinde in Miedersachsen. Kirchdorf ist ungafähr 50 km von Bremen entfernt und liegt in der Nähe von Sulingen.« Die gedruckten Lexika hatten immer ein Platzproblem und mussten daher eine verkürzte Sprache verwenden, und die klingt in diesen Beiträgen noch entfernt nach.



MC364

Vokabeln:


MC365

Der Prozess
Mutter Erde, ein ferrophiler Admin (Wahlspruch: »Freunde von allem, was Eisen beißt, Eisen heißt, eben Eisen meist«) und die Pornographie - die fast kafkaesk anmutenden Folgen einer Artikelbearbeitung, die für genau eine Minute zu nachtschlafender Zeit in der Wikipedia sichtbar war. Der Wikipedia-Autor Mutter Erde ist ein profunder Kenner von pornographischen Filmen, ihren Darstellerinnen und allem, was dazugehört. Im November 2004 kam er zur Wikipedia und legte los. Er verbesserte nach zünftiger Wikimanier auch die vom WikipediaBenutzer Triebtäter angelegten Artikel zum Sujet der gehobenen Erwachsenenunterhaltung, indem er hier und da den einen oder anderen Weblink einfügte, meistens zur Illustration der damals noch weitgehend unbebilderten und daher recht langweiligen Artikel. Doch er rechnete nicht mit der Empörung eines ferrophilen Wikipedia-Administrators und Stammtischlers aus dem Ruhrgebiet, der in Mutter Erdes Treiben eindeutig die Verbreitung pornographischer Schriften sah und Anzeige erstattete, auch in der Befürchtung, dass die Wikipedia-Admins irgendwann deswegen belangt werden könnten, wenn sie dies zuließen.
Zwei Jahre später war es dann so weit. Vor dem Berliner Amtsgericht Tiergarten, im beeindruckenden Gebäude des Kriminalgerichts Moabit, begann am 10. August 2007 der Prozess gegen Mutter Erde. Während der Verhandlung musste es wohl etwas unruhig gewesen sein, drohte ihm der Amtsrichter doch 150 Euro Ordnungsgeld oder drei Tage Ordnungshaft an, wenn er ihn weiterhin bei seinen Ausführungen unterbrechen würde. Der Richter stellte, offenbar in finsterer Erinnerung an Fritz Teufels »Spaßgerilja« vergangener Zeiten, fest: »Wir sind hier nicht auf einer Spaßveranstaltung.« Dann kam das Urteil, Mutter Erde wurde freigesprochen, denn das Gericht war der Ansicht, dass zwischen zwei Uhr siebzehn und zwei Uhr achtzehn pornographische Links in Wikipedia-Artikeln nicht so schlimm seien. Was aus den Protagonisten geworden ist? Mutter Erde wurde gesperrt, aber nicht wegen seines Freispruchs. Er bearbeitete dann noch zeitweilig unter einer IP-Nummer verschiedene Friedhofsartikel und erscheint hin und wieder auf Berliner Wikipedia-Treffen. Der eisenfreundliche Admin verließ die Wikipedia und ging zu Wikiweise. Zum Abschied schrieb er noch: »Die Wikipedia macht auf mich mittlerweile den Eindruck eines prächtig gewachsenen Baumes, der jedoch von einer ganzen Anzahl von Würgefeigen befallen ist und langsam aber sicher daran zu Grunde geht.« Würgefeigen gibt es wirklich, im entsprechenden Wikipedia-Artikel steht: »Die Samen werden von Vögeln gefressen und passieren ungeschädigt den Verdauungstrakt.«


MC366

Vokabeln:


MC367

Richtet nicht, schlichtet!
Wo es Konflikte gibt, seien sie auch noch so absurd, ist der Ruf nach einem Gericht nicht weit. Wie im realen Leben gibt es auch in der Wikipedia Prozesshanseln, notorische Querulanten, Advokaten, Richter und im Geheimen auch den einen oder anderen Henker. Und natürlich kilometerlange Maschendrahtzäune. Im englischsprachigen Schwesterprojekt gibt es bereits seit 2004 ein »Arbitration Committee«, das Konflikte zwischen Autoren beilegen soll. In der deutschsprachigen Wikipedia hat es bis Ende April 2007 gedauert, bis ein Meinungsbild unter den Benutzern ergab, dass eine solche Einrichtung auch hierzulande eingeführt werden müsse. Im Mai wurde dann auch gleich gewählt. Die erste Generation der Schiedsrichter schien durchaus stolz auf ihr Mandat zu sein, man war was im Projekt, und die Erwartungen waren hoch.
Doch die bemüht bürokratisch-juristisch anmutende Sprache der ersten Verlautbarungen sorgte schon bald für Spott. Leicht hinterlistig und höflich formulierte es der Autor UW so: »Guten Abend, hohes Gericht! Ich möchte mal zur Diskussion stellen, dass aus meiner Sicht der ziemlich juristisch geprägte Sprachgebrauch, der sich durch diese Seiten zieht, dem eigentlichen Anliegen dieser Institution nicht gerecht wird.« Er fuhr fort: »Vielleicht wäre sogar zu überlegen, ob die Institution selbst umbenannt werden sollte in Schiedskomitee.« Da hatte er in seinem sicheren Gespür für Zusammenhänge genau das Problem angesprochen, das bis heute nicht nur einmal in diesem Gremium zu langen Diskussionen geführt hat und es teilweise sogar lähmte.



MC368

Vokabeln:


MC369

Doch zunächst ging es beschaulich zu, denn der erste, gleich reichlich knifflige Fall wurde glücklicherweise rechtzeitig vom Antragsteller zurückgezogen. Es ging um den Wikipedia-Artikel »Linksextremismus«. Die beteiligten Autoren waren alte Bekannte aus dem Milieu, nahmen aber das anberaumte Verfahren nicht sehr ernst und ließen den Antragsteller EscoBier allein im Vorzimmer stehen. Ein paar Tage später ging es um »Joseph Beuys«.4 Es gab Ärger um den Prädikatsartikel (lesenswert) über den großen Düsseldorfer. Man stritt sich über die epische Länge des Textes, wollte bestimmte Aspekte in eigene Artikel auslagern, aber, wie es so unter Kunstsachverständigen ist, man zoffte sich. Das Gericht lehnte den Fall ab, man wollte sich offenbar mit Fettecken- und Ohrenschmalzsesselproblemen nicht näher beschäftigen. Abgelehnt wurden auch der Fall der vermeintlichen »Kindesmisshandlung bei Zeugen Jehovas« oder Probleme hinsichtlich des Stellenwerts der Alternativmedizin in der Wikipedia. Angenommen wurde dagegen der Fall, bei dem sich die Autoren darüber stritten, ob das Lemma eines Artikels nun »Beschneidung« oder »Verstümmelung weiblicher Genitalien« heißen muss. Doch meistens lehnten die Schiedsrichter wohlweislich ideologische und weltanschaulich gefärbte Probleme ab.
Das ging zwei Jahre gut, Wahlen wurden abgehalten und kleine bis mittlere Fälle erledigt. Doch irgendwann im August 2009 erschienen Wlady, ja genau, der spätere Donauturmspezialist, und sein damaliger Widersacher mit dem Namen Umschattiger auf der Bühne. Es war ein bizarrer Fall, der seltsame Blüten trieb. Das Schiedsgericht war schnell überfordert, denn Wlady und sein Kontrahent entdeckten die Methode, Befangenheitsanträge gegen gewisse Schiedsrichter zu stellen. Beleidigungen und Angriffe folgten, und als es ihm dann nicht schnell genug weiterging, zog Wlady seine Anfrage an das Schiedsgericht einfach zurück. Er hatte offenbar die Lust verloren, wusste aber wohl nicht, was er damit angerichtet hatte: Die Schiedsrichter waren baff und verkrachten sich. Am 1. Oktober 2009 traten sie bis auf drei zurück. Das Kapitel Schiedsgericht schien damit fürs Erste erledigt zu sein.




MC370

Vokabeln:


MC371 - MC380

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MC371

Doch bald wurde erneut gewählt, ein neuer Versuch mit teilweise neuen Leuten sollte frischen Wind ins Projekt blasen. Aber auch diese Wahlperiode stand unter keinem guten Stern. Auch hier sorgte die personelle Zusammensetzung für internen Stress. Wladys Fall war immer noch nicht abgeschlossen worden, und die Community merkte, dass etwas im Schiedsgericht nicht stimmte, es rumorte vernehmlich. Am 22. Februar 2010 forderte eine Schiedsrichterin den Rücktritt eines ihrer Kollegen. Sie schrieb unter anderem den Satz: »Du diffamierst fortlaufend Kollegen, ignorierst mehrheitlich getroffene Entscheidungen und sorgst für ein schwer erträgliches Klima im Schiedsgericht. Deine Grundsatzdebatten behindern die Arbeit an den aktuellen Anfragen.« Das war ein Hammer. Zwei Tage und Nächte lang schwappten die Wellen einer abgrundtief lustvollen und bösen Diskussion über das einst so hoch gelobte und mit hohen Erwartungen belegte Schiedsgericht. Am 24. Februar verkündete der Schiedsrichter Geos glücklicherweise lapidar: »Das SG ist voll arbeitsfähig und hat gerade eine extrem produktive Sitzung beendet.« Die Community war nun enttäuscht, gerade wo es doch für die immer schon überzeugten Gegner des Schiedsgerichts wieder interessant wurde. Aber langsam kehrte Ruhe ein, noch ein paar Mal warf man sich die üblichen Argumente für und gegen ein »SG« an den Kopf, aber der Unterhaltungswert der Debatte konvergierte unübersehbar gegen null. Anderes begann interessanter zu werden. Intern grummelte es noch etwas weiter, aber im Wonnemonat Mai war auch das ausgestanden, eine neue Wahl stand an. Das SG scheint sich danach konsolidiert zu haben.



MC372

Vokabeln:


MC373

Edits des Grauens
Viele Artikel der Wikipedia werden durch Vandalen vorübergehend unbrauchbar gemacht. Normalerweise sind diese Vandalismen aber nicht von langer Dauer, Autoren, die den entsprechenden Artikel auf ihrer Beobachtungsliste haben, entfernen den Unsinn umgehend. Manchmal jedoch hält sich ein verhunzter Artikel über eine erstaunlich lange Zeit in der Wikipedia, manchmal sind auch Vandalen am Werk, die unter immer neuen Accounts ihren Unsinn wiederholt einfügen und die anderen zur Weißglut treiben können. Ein Beispiel ist der Artikel über Emden, die graue Stadt am Dollart. Schließlich »wurde Emden ja auch durch seine Kneipenschlägereien bekannt«. Diesen Satz fügte immer wieder ein engagierter, wahrscheinlich aus Wybelsum stammender Autor in den Artikel ein. Ist ja auch verständlich, nach Schichtende geht der Werktätige natürlich in die Kneipe in der Nesserlander Straße und setzt den Lohn in flüssige Naturalien und Frauen um, dabei passiert schon mal so etwas wie eine kleine Auseinandersetzung auf Augenhöhe zwischen kernigen Kerls. Dieses ostfriesisch-folkloristische Detail der Stadtgeschichte Emdens ist leider heute in dem mittlerweile mit dem Prädikat »lesenswert« versehenen Artikel nicht mehr zu finden.



MC374

Vokabeln:


MC375

Ein echter, ernster Klassiker des Vandalismus ist jedoch der im Mai 2005 von einem anonymen User in der englischsprachigen Wikipedia angelegte Artikel über den US-amerikanischen Schriftsteller John L. Seigenthaler, senior. In dem Artikel, der ziemlich solide und seriös daherkam, wurde behauptet, Seigenthaler hätte etwas mit den Morden an John F. und Robert Kennedy zu tun. Im September 2005 fiel der bis dahin nahezu unverändert gebliebene Artikel einem Freund auf. Seigenthaler trat an die Wikipedia heran und bewirkte die Löschung des Textes. Sein Versuch, über die IP-Adresse und den entsprechenden Provider an den Urheber der Verleumdung heranzukommen, scheiterte jedoch. Er wandte sich daraufhin an Larry Sanger. Auch dies blieb zwar erfolglos, aber Sanger war von nun an der Wikipedia nicht mehr sehr freundlich gesinnt, der Vorfall ermunterte ihn verstärkt dazu, sein Projekt Citizendium in Angriff zu nehmen.
Die Seigenthaler-Affäre war ein harter Rückschlag für die Wikipedia, fast alle großen Medien nutzten die Vorkommnisse für harsche Kritik am Konzept einer freien Mitmach-Enzyklopädie. Die Folge war, dass seitdem in der englischsprachigen Wikipedia nur noch angemeldete Editoren neue Artikel erstellen können. Wikipedias Ruf als seriöse Recherchemöglichkeit ist seitdem nachhaltig ramponiert, sagte man, was aber, wie wir später sehen werden, nicht sehr lange vorhielt. Die Süddeutsche Zeitung berichtete am 12. Dezember 2005 in ihrem Feuilleton, dass der anonyme Wikipedia-Benutzer mittlerweile bekannt sei. Unter der Überschrift »Scherzcookie. Wikipedia-Fälscher enttarnt« heißt es: »Nun gelang es dem Wikipedia-Kritiker Daniel Brandt, mittels der verwendeten IP-Adressen die Identität des Autors zu lüften: Brian Chase heißt er und arbeitet bei einer Spedition in Nashville. Er habe Wikipedia für eine Scherz-Website gehalten, und als Scherz sei auch sein Eintrag gemeint gewesen. Zerknirscht hat er sich bei Seigenthaler entschuldigt.« Seitdem gab es auch Fälle, in denen Wikipedia-Kritiker eigenhändig Falschinformationen eingepflegt haben, um das System zu testen und seine Unzuverlässigkeit vorzuführen.



MC376

Vokabeln:


MC377

In der deutschsprachigen Wikipedia sind bis jetzt Fakes dieser Größenordnung nicht aufgeflogen, sieht man vom einstigen deutschen Verteidigungsminister oder von der berühmten »Bügelbrett-Affäre« ab. Karl-Theodor zu Guttenberg, Spross einer angesehenen Adelsfamilie aus dem Fränkischen, hat es zu etwas gebracht, denn er war von Ende Oktober 2009 bis Anfang März 2011 Verteidigungsminister. Und hat deutlich über neun Vornamen, was aber nicht immer so war. Der smarte Politiker der CSU besaß immerhin schon seit 2005 einen Wikipedia-Artikel, der lange Zeit unbeachtet sein Dasein fristete. Am 9. Februar 2009, lange vor der Bundestagswahl, die die große Koalition in Deutschland ablösen sollte, gab ihm ein unangemeldeter Benutzer aus dem Kölner Raum den entscheidenden elften Vornamen »Wilhelm« dazu. Was auch kein Wunder war, im Rheinland war schließlich an diesem 9. Februar mit dem Aschermittwoch gerade der Karneval vorbei. Die verkaterten Jecken aßen ihren Bismarckhering und mussten wohl an Wilhelm gedacht haben.
An diesem Tag berichteten die Medien, dass Guttenberg als Schattenminister für die Bundestagswahl auserkoren war. Entsprechend aufgeregt editierten die Wikipedia-Autoren den Text. Knapp 7oEdits musste der Artikel über sich ergehen lassen, bevor wieder Ruhe eintrat. Der zwischendurch eingepflegte Wilhelm fiel da gar nicht groß auf. Das änderte sich erst, als die Medien mal wieder aus Bequemlichkeit kritiklos aus der Wikipedia abschrieben. Dabei hätte man sich doch denken können, dass fränkische Adlige aus der Ecke niemals Wilhelm heißen. Interessanterweise war der falsche Vorname nicht einmal 24 Stunden im Artikel und hatte doch eine große Wirkung. Besonders schöne Vandalismen aller Art sammelt übrigens Wikipedia-Autorin Anneke Wolf.





MC378

Vokabeln:


MC379

Ein Turm ist ein Turm ist ein Fernsehturm?
»Wie schön wäre Wien ohne Wiener«, sang Georg Kreisler 1964. Genau in jenem Jahr wurde auch in Wien der Donauturm fertig gestellt, ein typischer Vertreter der damaligen architektonischen Mode. Über 40 Jahre blieb es ruhig um diesen Koloss aus Beton, aber in den dunklen Novembertagen 2009 war Schluss damit. »Wie schön wäre Wikipedia ohne Wikipedianer«, mag sich mancher gedacht haben angesichts einer skurrilen Affäre in der Wikipedia, die mit einem Streit um die Frage begann: Ist dieses Ding nun ein Fernseh- oder ein Aussichtsturm? Österreicher gegen den Lörracher, ein absurder Bearbeitungskrieg tobte, der es sogar zu einem ansehnlichen Artikel im Nachrichtenmagazin Der Spiegel brachte. Auch andere Zeitungen berichteten ausführlich aus dem angeblichen »Innern des Weltwissens«. Taxiarchos228, liebevoll Wlady genannt, war ein fleißiger Autor, mehr noch ein exzellenter Fotograf. Er gehörte zu der Sorte von Wikipedia-Autoren, die sich grundsätzlich im Besitz der Wahrheit wähnen, ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein haben, einen athletischen Körper und eine Vorliebe für ... na, das lassen wir mal lieber. Leider gehörte er aber zu denen, die, bevor sie einen Schritt zurückgehen können, erst alles zerstört haben müssen. Wie Soldaten, die auf dem Rückzug sind, oft verbrannte Erde hinterlassen. Wlady konnte kämpfen, bis zum bitteren Ende, das war ein Sport für ihn. Dass er auch rechthaberisch und besserwisserisch war, tut nichts zur Sache, die meisten dominanten Autoren der Wikipedia haben diese Eigenschaften, die sie einst groß gemacht haben. Wlady kämpfte allein gegen den Rest der am Artikel beteiligten Autoren und hielt erstaunlich lange durch. Bis Ende Dezember 2009 tobte der Bearbeitungskrieg, doch am Ende musste Wlady sich doch zurückziehen, verlor die Lust am Kampf, teilte noch einmal kräftig aus, sah sich als Opfer, bescheinigte sich selbstlobend noch einmal den absoluten Sachverstand bezüglich der Fernsehtürme der Welt und beendete die Partie. Die Affäre war ausgestanden, die Medien hatten eine Zeit lang gutes Futter gehabt, und zurück blieben erschöpfte Autoren.



MC380

Vokabeln:


MC381 - MC390

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MC381

Doch Wikipedia kann so unheimlich sein, im Untergrund, von Wlady unbemerkt, arbeitete eine präzise Maschine mit dem Namen Monitor Nr. 600, die sich durch Tausende von Bearbeitungen wühlte. Es handelte sich um ein Benutzerkonto, das nur dazu angelegt wurde, Wlady endgültig das Handwerk zu legen. Am 4. Februar 2010 gelang diesem Monitor Nr. 600 der Nachweis, dass Wlady mit Hilfe von sogenannten Sockenpuppen, das sind mehrere von einem Benutzer angelegte Konten, Abstimmungen über die Exzellenz von Bildern, die er selbst gemacht hatte, manipulierte, was nach den Regeln der Wikipedia mit einer Sperre geahndet wird. Einer seiner Accounts nannte sich »Minima Moralia«, gab vor, eine Frau zu sein, und war doch nur der peinliche Versuch, ein Trugbild aufrechtzuerhalten. Wlady hatte seine beste Zeit hinter sich, er ließ nach, auch sein bislang letzter Versuch mit einem Benutzerkonto namens »Hustender Hektor« schlug fehl. Wlady ist schwach geworden, doch in der Wikipedia hält sich hartnäckig die Legende, dass er eines Tages zurückkehren und die Wikipedia von den Fesseln dieser elenden Ignoranten befreien wird.




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Vokabeln:


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Wikipedia in der Hand von Nazis!
Katina Schubert war bis 2008 stellvertretende Vorsitzende der Partei Die Linke und traute offenbar ihren Augen nicht, als sie im November 2007 in der Wikipedia las: Überall waren Hakenkreuze, Reichskriegsflaggen und sonstige Symbole verfassungsfeindlicher und verbotener Organisationen zu erblicken, gleichgültig, ob bei den zahlreichen Artikeln über U-Boote, Panzer oder Flugzeuge der Luftwaffe. Die ganze Wikipedia schien voll von Nazisymbolen zu sein - wenn man nur richtig suchte. Allein im Artikel über die Hitlerjugend waren mindestens vier Hakenkreuze in Form von Flaggen, Schulterstücken und Dokumenten zu sehen. Schlimmer noch, zahlreiche Zitate über die Organisation gaben als fragwürdige Quelle der Recherche Nazipublikationen an. In der Tat, der Artikel »Hitlerjugend« war in jener Zeit in einem saumäßigen Zustand und trug einen Hinweis auf mangelnde Qualität.
Frau Schubert erstattete daher am 6. Dezember 2007 Anzeige gegen »die Wikipedia« (gegen wen?) und verteilte umgehend eine Presseerklärung mit dem kämpferischen Titel: »Nazis raus aus Wikipedia«. Solche öffentlichkeitswirksamen Aktionen sind natürlich für Politiker nicht zu verachten, schärfen sie doch das eigene Profil in der Partei im harten Kampf um Einfluss und Macht, besonders kurz nachdem die Illustrierte Stern eine Titelgeschichte mit einem ausführlichen, die Wikipedia sehr lobenden Text präsentierte. Immerhin waren die Wikipedia-Autoren jetzt aufgescheucht und begannen erst einmal zu diskutieren, was auch sonst. Dann redete man über die Schreibweisen, mit oder ohne Bindestrich. Inzwischen wurden bis auf eines alle Hakenkreuze aus dem Artikel entfernt, heute sind es wieder mehr, aber auch mit erweitertem Text, und Frau Schubert zog ihre Anzeige zurück. Und die Wikipedia begann Artikel über Naziorganisationen sorgfältiger zu bearbeiten, insofern hat sie Gutes für das Projekt bewirkt.



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Vokabeln:


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Nachdem die Sache mit dem Bindestrich im Lemma geklärt war, ging es an das Inhaltliche. Ein Wikipedia-Account namens Mannerheim war der Ansicht, dass der Begriff »Leibesertüchtigung« durchaus aktuell sei, er schrieb auf eine Vorhaltung: »Unsinn. Leibesertüchtigung ist vielleicht in deinen Augen >antiquiert<, aber heute immer noch ein durchaus gängiger Fachbegriff im Sport - gerade auch im militärischen Bereich.« Worauf ein Nanozwerg entgegnete: »aus welchem Jahrhundert kommst du denn?! wir sind hier auch nicht beim Militär!!« Während weiter heiß diskutiert wurde, veränderten beherzte andere Autoren den Artikel. Aber der Artikel über die Hitlerjugend war kein Einzelfall. Interessanterweise gibt es in der Wikipedia einen Artikel über das hochrelevante Lemma »HJFahrtenmesser«, der bis Ende November 2007 handfeste Hinweise auf den NS-Devotionalienhandel enthielt. Wer Wikipedia liest, erfährt auch dies: In Nazi-Deutschland gab es bis 1939 ein sogenanntes Amt für Schönheit der Arbeit (das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen), das sich laut der zeitgenössischen Presse »dem Wohle des deutschen Arbeiters« widmete. Dieses Amt hat auch einen ausführlichen Wikipedia-Artikel, der bis zum 20. Januar 2009 zum größten Teil aus abgeschriebenen Zeitungsartikeln der Jahre 1936 und 1937 bestand, doch das Problem ist vielschichtiger, als man glaubt, denn ...




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Vokabeln:


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... Wikipedia ist von Kommunisten unterwandert!
Thrillermäßig subversiv ging es in der Wikipedia hin und wieder schon zu, Verschwörungstheorien über Komplotte der Admins gegen unliebsame Autoren machten nicht nur einmal die Runde, aber seit es den »Club«, genauer: die beiden Clubs, gibt, hat sich die Stimmung gebessert, jedenfalls bei den Beobachtern. Die Situation in der Wikipedia Ende 2007 war komfortabel, die alten Affären waren ausgestanden, Wikipedia stand so gut da wie nie zuvor und hatte sich eine gewisse Selbstzufriedenheit zugelegt. Die meisten Kritiker waren ruhiggestellt, Admin-Kandidaturen liefen wie geschmiert, das WikipediaFußvolk war stolz darauf, an einem so großen Werk teilzuhaben. Doch der Schein trog: Irgendwas war im Busch.
Am 12. Januar schrieb der Wikipedia-Autor Andrax, offenbar ein kritischer Geist, schmissig: »Vorwärts, unter Freien ist schließlich alles erlaubt! (frei nach Katharina der Großen, die Diderot aufforderte, über Tabus zu reden).« Na, das hat gesessen. Alles war erlaubt? Man ließ sich nicht lange bitten, innerhalb kurzer Zeit war dieser erste Diderot-Club der Renner, viele Verfolgte des »Adminpedia-Systems« hatten hier eine Möglichkeit, ihr Leid zu klagen. Es wurden Helden wie der Spinnenexperte Brummfuss solidarisch unterstützt und Resolutionen verfasst. Die Feststellung eines Admins, dass »antisemitische Äußerungen ... kein Sperrgrund« seien, sorgte für erstes Aufsehen, als aber dann der Wikipedia-Stadtindianer Schwarze Feder enthüllte, dass genau dieser Admin auch noch schrieb: »Kurze Zeit später kam von ... die Äußerung, dass es >unverantwortlich< sei, nationalsozialistische Äußerungen wie >Heil Hitler< in Wikipedia zur Anzeige zu bringen, weil dies die Staatsanwaltschaft daran hindern könnte, ihrer eigentlichen Aufgabe (zum Beispiel >Aufklärung von Kindermorden<) nachzugehen«, war schon einiges los. Die antifaschistische Front formierte sich.


MC388

Vokabeln:


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Dann ging es um die Wiederwahl von Admins, man erklärte sich erneut mit Brummfuss solidarisch, der leider immer noch gesperrt war. Auch die infinite Sperrung des Accounts Hermes3i sorgte im Club für Empörung. EscoBier, fränkischer Autor mit Vorliebe für heimatliche Geographie, Indianer und Tiere, schrieb über Hermes den nicht ganz vollständigen Satz: »Also eine wissenschaftliche Anerkennung als Grundlage einer Wortexistenz auszugehen, kann wirklich nur dem kranken Gehirn eines betroffenen Extremisten entspringen.« Es ging um die Begriffe »Verfassungsfeindlichkeit« und »Verfassungsinterpretation« im Artikel »Linksextremismus«. Hermes, offenbar leicht antibayerisch eingestellt, erkannte: »Eine Enzyklopädie hat andere Aufgaben als ein Stammtisch. Was der bayerische Dorfbewohner hinter den sieben Bergen in Bierlaune mit seinen inzestgeschädigten Trinkkameraden zusammenpöbelt, ist hier nicht relevant, wohl aber ein wissenschaftlicher Diskurs.« Dann ging es um die marxistisch orientierte Tageszeitung Junge Welt. Sie sollte nach dem Willen des Autors Thek - ähnlich wie die Wochenzeitung Junge Freiheit, das Zentralorgan der Neuen Rechten - nicht als seriöser Beleg für die Recherche erlaubt sein.
Diese Diskussionen waren noch konstruktiv und von gegenseitigem Respekt getrieben. Hooliganmäßiger Klamauk begann erst im zweiten Diderot-Club. Hier lieferte nicht Katharina die Große das Motto, sondern Christian Stegbauer, ein angesehener Kritiker der Wikipedia: »Im Moment scheint der Widerspruch zwischen dem Ziel des Projektes und der organisationalen Wirklichkeit durch interne Machtverteilung in Wikipedia weiter anzusteigen.« Die interne Machtverteilung in der Wikipedia war das Kernthema dieses Clubs. Neben »den« Admins, den »Herrschern der Adminpedia«, wurde nunmehr der Verein Wikimedia Deutschland e.V. zum Feind. Man warf ihm regelmäßig üble Machenschaften vor, finanzielle Unregelmäßigkeiten und andere nicht sehr nette Sachen. In gewisser Weise muss sich der Verein aber selbst an die Nase fassen, seine Öffentlichkeitsarbeit gegenüber den Wikipedia-Autoren war oft nicht übermäßig transparent. Die Autoren wollen natürlich wissen, was vorgeht. Werden ihnen Informationen vorenthalten, reagieren sie mit gut formulierten Theorien über Verschwörungen, die aufgrund ihres Unterhaltungswertes schnell und gern auch von völlig unbeteiligten Benutzern aufgegriffen und verbreitet werden. Alle Versuche, diesen Club loszuwerden, scheiterten, viele Benutzer fanden ihn nämlich nützlich. Er ist ein idealer Sündenbock für seine Gegner. Außerdem ist er weiterhin Zufluchtsort für die Gestrandeten der Wikipedia. Rätselhafte Wikipedia.




MC390

Vokabeln:



MC391 - MC400

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MC391

Sperrung der Wikipedia
Lutz Heilmann, die Schatten der Vergangenheit und ein großer Effekt sind die Zutaten einer heute amüsant anmutenden Begebenheit, die aber im November 2008 für ein großes Echo in der Öffentlichkeit sorgte - und dem Verein Wikimedia Deutschland ein erhöhtes Spendenaufkommen bescherte. Doch der Reihe nach. Wer ist Lutz Heilmann? Herr Heilmann war von 2005 bis 2009 Abgeordneter im Deutschen Bundestag für die Partei Die Linke. Heilmann stammt aus der ehemaligen DDR und leistete seinen Wehrdienst beim Ministerium für Staatssicherheit ab. Offenbar gefiel es ihm dort so gut, dass er im Anschluss seines Dienstes hauptamtlich bei der Stasi weiterarbeitete, warum auch nicht, die Bezahlung war in Ordnung, man hatte gewisse Privilegien, und niemand ahnte dort, dass die Bespitzelung eines ganzen Volkes irgendwann mal zu Ärger führen könnte. Der Ärger kam Ende 1989, die Wende fegte das Stasi-Ministerium in der Berliner Normannenstraße hinweg, Tausende Mitarbeiter waren plötzlich dem real existierenden Kapitalismus schutzlos ausgeliefert. Lutz Heilmann gelang es jedoch, eine politische Karriere zu beginnen, was wohl nur durch ein Verschweigen seiner Stasi-Vergangenheit möglich war. Wie immer in solchen Fällen, irgendwann kommt immer alles raus. 2005 war klar, wie Heilmanns Vergangenheit in der DDR aussah.


MC392

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MC393

Da für die Wikipedia Bundestagsabgeordnete relevant sind, gibt es auch einen Artikel über ihn, unter dem Lemma »Lutz Heilmann« stand jedoch zunächst nur Langweiliges über den Juristen aus Zittau, der in Norddeutschland Karriere machen wollte. Das änderte sich abrupt, als Spiegel Online am 8. Oktober 2008, fast pünktlich zum Tag der Republik, einen Bericht über seine Stasi-Vergangenheit veröffentlichte, der natürlich sofort in denWikipedia-Artikel eingepflegt wurde. Die Aktualität, ein immenser Vorteil der Wikipedia gegenüber anderen Nachschlagewerken, ist unübertroffen. Nicht ganz dieser Ansicht muss wohl Herr Heilmann gewesen sein. Am 13. November 2008 erreichte er durch eine sogenannte Einstweilige Verfügung des Landgerichts Lübeck gegen den Wikimedia-Verein, dass die Internetadresse wikipedia.de aufgrund der Berichterstattung zu seiner Stasi-Vergangenheit im Artikel nicht mehr auf Wikipedia verweisen durfte.
Damit war der Geist aus der Flasche gelassen worden, denn ihm war wohl nicht klar, was nun geschehen würde. Wikipedia war natürlich die ganze Zeit weiterhin erreichbar, und die Zahl der Zugriffe auf den Artikel über ihn schoss in die Höhe (im Oktober 2008 gab es 1280 Aufrufe, im November 717 095). Viele Internetnutzer dürften überhaupt durch diese Aktion erst von Lutz Heilmann und seiner Stasi-Vergangenheit erfahren haben. Ein paar Tage später war der Spuk vorbei, Heilmann bereute zwar öffentlich seine Fehleinschätzung in einem Interview mit der taz, doch seine politische Karriere war beendet. Zur Bundestagswahl 2009 bewarb er sich noch einmal für einen Platz auf der Landesliste, wurde aber nicht mehr aufgestellt.



MC394

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MC395

Und nun?
Auf der dunklen Rückseite der Wikipedia ging es in den ersten zehn Jahren ihres Bestehens schrill, immer aufgeregt und katastrophal chaotisch zu. Auf der hell beleuchteten Vorderseite wurde aber gerade auch aus diesem etwas schlüpfrigen Untergrund heraus etwas Revolutionäres geschaffen. Ist Wikipedia womöglich nun erwachsen geworden? Die enzyklopädische Pubertät scheint überwunden zu sein, die seriösen Autoren sind in die Jahre gekommen und beginnen weise zu werden. Ihr Umgangston ist aber teilweise immer noch inakzeptabel. Die zukünftige Arbeit in der Wikipedia wird hauptsächlich Routine sein, Artikelverwaltung, effektive Troll-, Vandalen- und Reklameabwehr, Ausbau des Bestehenden zur Exzellenz. Man wird sich aber auf immer weniger neue Autorenzugänge einstellen müssen. Der Reiz des geheimnisvoll Chaotischen ist verflogen. Vielleicht finden pensionierte Wissenschaftler irgendwann den Weg zu ihr. Das würde passen, denn in zehn Jahren wird Wikipedia sehr alt sein und allein dastehen. Doch sie wird unberechenbar bleiben, das wird sich wohl nie ändern.



MC396

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Kaffeeservice und Bügelbrett: Von der Wikipedia ohne Umweg in die Köpfe
VON ARNE NORDMANN
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Im Dezember 2007 bin ich auf eine Geschichte gestoßen, die für mich bis heute eine der schönsten ist, um mit mahnendem Zeigefinger vor leichtfertigem Umgang mit Informationen aus Wikipedia zu warnen. Sie handelt von einem Scherzeintrag und davon, wie mangelnde Sorgfalt bei der Recherche dazu führt, dass eine Zeitungsente entsteht.
Ich erfuhr durch Zufall von einem scheinbar lustigen Vorfall: Ein Bekannter soll demnach aus Spaß auf Wikipedia einen Unsinnsbeitrag verfasst haben. Es heißt, er habe sich über die Siegesprämie der Fußballfrauen zum EM-Sieg 1989, ein Kaffeeservice, amüsiert und dem Artikel kurzerhand »sowie ein Bügelbrett« hinzugefügt. Daraufhin soll es dieses Bügelbrett später sogar in die Quizsendung Wer wird Millionär? geschafft haben.
Hinreichend mit Wikipedia vertraut, nahm ich dies zum Anlass, einige Minuten in Recherchen zu investieren. Diese Geschichte auf ihre Plausibilität zu überprüfen erfordert lediglich, einen schnellen Blick in die Versionsgeschichte des besagten Wikipedia-Artikels zu werfen. Schnell war die entsprechende Bearbeitung gefunden. Sie datierte auf den 10. September 2007 und kam tatsächlich aus dem IP-Subnetz der Universität, an der mein Bekannter studierte. In diesem Moment war ich angesteckt und begann, der Sache weiter systematisch nachzugehen.
Ob das hinzugefügte Bügelbrett wirklich den Weg zu Günther Jauch gefunden hatte, konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht herausfinden. Das einfache Befragen einer namhaften Suchmaschine brachte allerdings nicht nur vereinzelte Sichtungen des Bügelbretts ans Tageslicht, sondern auch - zu meinem großen Erstaunen - eine Vielzahl von Zeitungsartikeln. Um nur einige prominente zu nennen:
Spiegel Online: »Ich werde jetzt nur noch feiern, feiern, feiern«, 1. Oktober 2007
Stern.de: »Hurra, hurra, die Weltmeister sind da«, 1. Oktober 2007
Welt Online: »Herbstmärchen für einen Sonntag«, 30. September 2007
taz: »Erst die Stille, dann der Ehrenjubel«, 1. Oktober 2007
• und viele weitere ...



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Vokabeln:


MC399

Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht wusste und auch durch Internetrecherche nicht herausfinden konnte, trug Medienjournalist Stefan Niggemeier - auf die Geschichte in meinem Blog aufmerksam geworden - zusammen: Das Bügelbrett fand sich auch in den gedruckten Ausgaben von Die Welt (29. September und 1. Oktober), Welt am Sonntag (30. September), Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (30. September), Tagesspiegel (2. Oktober), taz (4. Oktober) und Berliner Morgenpost (31. Oktober). Alle genannten Artikel tragen ein Datum, das zwischen wenigen Stunden und einigen Tagen nach dem der fraglichen Wikipedia-Bearbeitung liegt. Artikel vor diesem Datum wissen nichts von einem Bügelbrett.
Wie konnte so etwas passieren? Wie konnte eine Nachricht, die aus Spaß von einer anonymen Person in Wikipedia eingetragen wurde, in der Mehrzahl der wichtigen deutschen Online-Medien auftauchen?
Man mag argumentieren, dass diese Falschinformation wenig Schaden angerichtet hat. In der Tat hat dies wohl eine untergeordnete Bedeutung, und selbst die hiesige Bügelbrettindustrie wird wohl durch die Geschichte kaum eine spürbare Steigerung ihrer Absatzzahlen verzeichnet haben. Dennoch steckt in dieser Geschichte ein ernsthafter Kern. Dieser ist nicht unbekannt, allerdings offensichtlich hinreichend unbekannt, um selbst denjenigen, die sich damit auskennen sollten, nämlich Journalisten, eine Warnung zu sein. An schlechten Möglichkeiten zur Verifizierung der Geschichte kann es jedenfalls nicht gelegen haben; eine mit wenigen Tastenanschlägen verfasste E-Mail an die DFB-Pressestelle ergab als Antwort:»... es handelte sich um ein Kaffeeservice, kein Bügelbrett...« Ein Telefonanruf hätte diese Erkenntnis vermutlich innerhalb weniger Minuten zutage gefördert.
Die ungeprüfte Aussage wird wahrscheinlich nicht mehr so schnell aus Köpfen und Stammtischgesprächen verschwinden. Wie gesagt - in diesem Fall wohl wenig verheerend, aber dennoch ein Beispiel für gelungene Geschichtsverfälschung. Durch einen Kommentar in meinem Blog wurde klar, dass wohl auch der Bundespräsident schon in einer Festrede die Mär vom Bügelbrett weiterverbreitet hatte. Ein gefährliches Pflaster; diesmal ist die Falschmeldung ein Bügelbrett, und nächstes Mal?



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