Bevor wir nun die Sätze von Pascal, Brianchon und Desargues zur Gewinnung geradezu zauberhafter Übergänge in die Maßgeometrie weiter untersuchen, wenden wir uns jetzt einem leichteren und sinnfälligeren Gebiet zu. Diese Erholungspause wird uns dazu dienen, aus unseren bisher erörterten Grundgebilden systematisch Figuren zu erzeugen. Und zwar vorläufig sogenannte projektive Figuren, die sicherlich die allgemeinsten und voraussetzungslosesten sind, da wir wieder von Größen vollkommen absehen und auch in keiner Weise an Regelmäßigkeiten denken. Wir werden auch im Auge behalten, daß unsere Figuren, ohne ihre Eigenschaften, die ja bloß Lagebeziehungen sind, irgendwie einzubüßen, in jeder Verzerrung gelten, inzident werden und degenerieren können.
Bevor wir unsere Figuren näher untersuchen, eine Vorbemerkung: Man sieht, ohne viel nachzudenken, wohl ein, daß man unter einer Figur stets irgendwie etwas Abgegrenztes zu verstehen hat. Dazu aber kommt noch etwas Weiteres. Die Grundgebilde selbst, soweit sie Elemente sind, also Punkt, Gerade und Ebene werden selbst nicht als Figuren, sondern gleichsam als Bausteine und Grundbestandteile von Figuren betrachtet. Höchstens dürfen sie als Grenzfälle von Figuren, gleichsam als degenerierte, zusammengeschrumpfte Figuren aufgefaßt werden. Davon aber später. Es gäbe jedoch im R1 einen Fall, der bis zu einem gewissen Grad als Figur bezeichnet werden könnte. nämlich die Strecke, das ist ein Stück einer Geraden, das von zwei Punkten begrenzt wird. Wir kommen jedoch vorläufig überein, daß wir auch die Strecke noch nicht als Figur betrachten. Wir müssen also den R2 die Ebene (Fläche) heranziehen, um Figuren bilden zu können. Was ist nun die mindeste Anzahl von Elementen, die eine Figur in unserem Sinn bilden können? Aus einer Geraden und einer beliebigen Anzahl von Punkten gewinne ich keine Figur, auch nicht aus zwei Geraden. Deshalb werden wir es mit drei Geraden versuchen.
Dieser Versuch gelingt. Allerdings nur unter der Bedingung, daß nicht zwei oder gar alle drei Geraden zueinander parallel sind oder daß sie einander nicht alle drei in einem einzigen Punkt schneiden. Wir haben also die einfachste Figur in der Ebene gefunden, die wir ein Dreiseit nennen wollen, weil sie aus drei Geraden (Seiten) erzeugt wurde. Diese drei Seiten schneiden einander in drei Punkten, die wir als Ecken oder Eckpunkte bezeichnen wollen, wie wir es bisher schon oftmals taten. In unserer Figur ist also die Zahl der Seiten und die Zahl der Ecken gleich. Das Dreiseit ist „dual“ dieselbe Figur wie das Dreieck. Wir nennen solche Figuren einfache oder Simplex-Figuren, fügen aber gleich eine Warnung hinzu. In der projektiven Geometrie ist ein Viereck oder ein Fünfeck durchaus nicht das, was man in der gewöhnlichen Schulgeometrie so nennt.
Denn die projektive Geometrie bildet stets sogenannte vollständige Figuren, indem sie aus einer gewissen Anzahl von Seiten stets alle möglichen Eck(Schnitt-)Punkte gewinnt und dual aus jeder Anzahl von Ecken alle möglichen Seiten (Verbindungsgeraden) herstellt. Ein Viereck in der projektiven Geometrie hat sechs Seiten und ein Vierseit sechs Ecken (Schnitte). Man nennt diese Art von Figuren die vollständigen Figuren, und wir werden jetzt ihre Stammtafel nach Carnot aufzubauen versuchen, wobei wir gleichzeitig gewisse Gesetzmäßigkeiten (Lage- Gesetze) angeben werden.
Zuerst sprechen wir von den vollständigen Figuren in der Ebene. In der Ebene kann es nur zweierlei Typen von Figuren geben, die sich aus Punkten und Geraden zusammensetzen, nämlich n-Ecke und n-Seite, wobei n eine beliebige Anzahl bedeutet, die größer als zwei ist. Nach den Gesetzen der Kombinatorik müssen n-Ecke stets n Punkte und Verbindungsgerade haben, da ich ja stets zwei Punkte durch je eine Gerade verbinden kann. Umgekehrt (oder dual) müssen bei n-Seiten je n Gerade vorliegen, die wiederum Schnittpunkte miteinander bilden können. Da wir schon festgestellt haben, daß n mindestens drei betragen muß, weil sonst keine Figur zustande kommt, haben wir als Simplexfiguren das Dreieck und das Dreiseit. Das Dreieck hat also, was ja seine Definition ist, drei Ecken und Ecken. Das Dreiseit hat drei Seiten und Eckpunkte. Dreiseit und Dreieck sind also einander äquivalent, müssen es sein, was schon aus der Anschauung erhellt, da ja bei dieser Simplexfigur wegen mangelnder Möglichkeit, irgendwelche Diagonallinien zu ziehen, die Anzahl der Ecken mit der der Seiten stets übereinstimmen muß.
Anders ist es schon beim Viereck und bei allen weiteren n-Ecken (wobei ). Das vollständige Viereck hat 4 Ecken und Seiten. Das Vierseit dagegen 4 Seiten und Ecken oder Schnittpunkte. Und ein 10-Eck etwa hätte 10 Ecken und Seiten, während wieder das 10-Seit sicherlich Ecken hätte.
Nun sind wir mit diesem Ergebnis noch nicht zufrieden und weiten unsere Kenntnisse der vollständigen Figuren noch aus. Zu diesem Zweck zeichnen wir uns ein vollständiges Viereck. Wir sehen die vier Eckpunkte A1, A2, A3 und A4 und die sechs Seiten a1, a2, a3, a4, a5, a6, die wir zu drei Paaren Gegenseiten a1a3, a2a4 und a5a6 gruppieren können. Nun bilden aber je zwei Gegenseiten wieder einen neuen Schnittpunkt, den sogenannten Diagonalpunkt. In unserer Figur D1, D2 und D3.
Der duale Fall ist beim Vierseit zu sehen. Hier haben wir vier Seiten (in Fig. 28 ausgezogen) und drei Paare von Gegenpunkten A1A3, A2A4 und A5A6, die zu je zwei eine Nebenseite (Diagonale), also d1, d2 und d3 zur Verbindung haben.
Damit hätten wir alle Möglichkeiten vollständiger Figuren in der Ebene erschöpft. Wir steigen deshalb zum zentrischen Bündel auf und untersuchen dort die Figuren. Ein Bündel ist, wie bekannt, eine räumliche Schnittfigur von Strahlen (Geraden) oder von Flächen (Ebenen). Im Zusammenhang mit den Figuren nennen wir die Geraden Kanten und die Ebenen Flächen oder Seitenflächen. Man unterscheidet also wohl n-Kante und n-Flache. (oder n-Flächner). Da wir uns nun solch einen n-Kant, also, grob gesprochen, eine nach unten offene Pyramide, stets durch eine Ebene geschnitten vorstellen können (und zwar in einer zu keiner Seite parallelen Richtung), so werden dann die Strahlen in der Schnittebene sich als Punkte und die Flächen sich als Gerade abbilden. Der Schnitt des Bündels durch die Ebene erzeugt also n-Ecke und n-Seite. Aus der Dualität zwischen Bündel und Ebene dürfen wir aber schließen, daß die Beziehungen zwischen den Flächen und Strahlen im Bündel dieselben sein müssen wie zwischen den Geraden und Punkten in der Schnittebene. Wir wissen also sofort, daß ein n-Kant aus n Kanten (Strahlen) und Verbindungsebenen, und daß ein n-Flach aus n Ebenen und Schnittgeraden bestehen muß, wobei wieder n eine beliebige Anzahl bedeutet, die mindestens drei beträgt. Denn aus zwei Flächen oder zwei Kanten kann niemals ein Bündel entstehen. Wir wissen auch sofort weiter die Äquivalenz vom Dreikant und Dreiflach, und wir können es uns schließlich aus unserem dualen Wörterbuch aus der Ebene ins Bündel übersetzen, daß etwa ein Vierkant drei Paare von Gegenflächen haben muß, die sich in drei Nebenkantstrahlen oder Diagonalstrahlen schneiden. Ebenso muß anderseits ein Vierflach drei Paare von Gegenschnittgeraden oder Gegenkanten haben, die zu drei Neben- oder Diagonalflächen verbunden werden können. Wir fügen noch bei; daß auch im Bündel eine einfache oder Simplexfigur existiert, die sich durch Gleichheit der Elemente auszeichnet. Es ist das schon erwähnte Dreikant und sein Spiegelbild das Dreiflach.
Nun hätten wir, sofern wir den R3 nicht verlassen wollen, also bloß im dreidimensionalen Raum bleiben, noch die Figuren im Raume als Abschluß zu bringen. Auch im Raum können natürlich Punkte nie anders durch Gerade verbunden werden, als je zwei solcher Eckpunkte durch eine Gerade. Daher haben wir bei einem n-eckigen Körper oder einem sogenannten räumlichen n-Eck nichts anderes zu erwarten, als daß zwischen den n Punkten Verbindungsgerade möglich sind. Mit den die Punkte bildenden Flächen oder Ebenen steht es anders. Wir wissen schon, daß wir durch je drei .unkte eine Ebene bestimmen können. Folglich sind auch Verbindungsebenen im räumlichen n-Eck möglich, wobei diese drei Punkte nicht auf einer Geraden liegen dürfen. Im räumlichen n-Flach dagegen existieren, wie der Name sagt, n Flächen, die zusammen aus naheliegenden Gründen Schnittgerade und Schnittpunkte bilden können. Die Simplexfigur im Raume ist das räumliche Viereck oder der Tetraeder. Er hat vier Eckpunkte, Verbindungsgerade oder Kanten und Verbindungsebenen. Sein Spiegelbild, das räumliche Vierflach, hat 4 Flächen, Schnittgerade und Schnitt- oder Eckpunkte. Ein vollkommener Würfel etwa, der bekanntlich ein räumliches Achteck ist, muß also mögliche „Verbindungsgerade und Verbindungsebenen aufweisen. Zum deutlichen Verständnis merken wir an, daß die duale Figur zum räumlichen Achteck, also zum Würfel durchaus nicht das räumliche Sechsflach, sondern selbstverständlich das räumliche Achtflach, also das vollständige Oktaeder ist. Dieses aber hätte nach unseren Formeln 28 Schnittgerade der Flächen und 56 Schnittpunkte oder Eckpunkte.
(Bei wirklichen Würfeln oder Oktaedern werden eine große Anzahl von Ebenen inzident, d. h. sie fallen zusammen. Wir müßten die Eckpunkte, um alle Flächen wirklich zu gewinnen, so im Raum verteilen, daß niemals 4 Punkte in einer und derselben Ebene liegen.)
Wir geben gerne zu, daß man sich die vollständigen Figuren im Raume sehr schwer vorstellen kann. Wir dürfen uns aber auf unseren Algorithmus, auf unsere selbsttätige Denkmaschine blind verlassen. Und das ist eben der ungeheure Vorteil der projektiven Darstellung.
Nun wollen wir uns, bevor wir uns die bisher erörterten vollständigen Figuren in einer Art von Übersichtstabelle zusammenstellen, einen kleinen, genäschigen [sic!] Ausblick auf höhere Dimensionen gestatten, der sich hier öffnet. In der von uns befolgten Art wird es nämlich möglich, auf die Eigenschaften vollständiger Figuren in höheren Räumen als dem R3 rein rechnerisch zu schließen. So hätten wir etwa als „Simplex“ im vierdimensionalen Raum das „Fünfzell" anzusprechen, ein sogenanntes „Polytop“, das heißt einen „Vielkörperer“, also eine Überfigur, die von Körpern begrenzt wird. Der Schluß ist plausibel. Im R2 wurden Figuren von Geraden begrenzt, im R3 von Flächen. Im R4 werden sie eben von Körpern begrenzt, im R5 von solchen „Polytopen“ und so fort. Da aber der 4 einen Freiheitsgrad mehr hat, so geschieht natürlich punkto „Schnitt“ und „Verbindung“ mehrerlei in ihm. Wir haben sicherlich noch kein „Fünfzell“ gesehen, werden es auch in „Wirklichkeit“ nie sehen, das heißt in vierdimensionaler Art. Aber seine Projektion in den dreidimensionalen Raum können wir aus Draht abbilden, wie wir ein Tetraeder des R3 auf ein Blatt Papier zeichnen können. Beziehungsweise, wie reine Flächenwesen den nie gesehenen Tetraeder in ihrer Fläche zeichnen würden. Darüber aber werden wir uns noch ausführlich unterhalten. Jetzt sei nur angemerkt, daß unser mystischer Fünfzell nach projektiven Gesetzen aus 5 Zellen oder Begrenzungskörpern, Ebenen, Geraden und Punkten bestehen muß. Also 5 Zellen, 10 Ebenen, 10 Geraden und 5 Punkten.
Die perspektivische Abbildung unseres Fünfzells aus dem R4 in den R3 und von dort in den R2 ist als Muster auf dem Umschlag dieses Buches zu sehen, wo es neben den „Punkten“, die als Scheibchen gezeichnet sind, die „vierte Dimension“ repräsentieren soll. Doch, wie gesagt, von all diesen schönen Dingen später. Denn wir haben noch viel aufzubauen. Allerdings werden wir auch in dieser Arbeit schon bei den nächsten Schritten wieder große Wunder erleben. Doch wir wollen nicht vorgreifen, sondern zuerst die angekündigte Zusammenstellung anfertigen:
A. Vollständige Figuren in der Ebene.
a) Allgemein
n-Eck
n-Seit
[n Punkte und Verbindungsgerade.]
[n Gerade und Schnittpunkte.]
b) Speziell
3-Eck Simplex der Ebene 3-Seit
(Das Kongruenzzeichen wird hier ausnahmsweise als Aquivalenzzeichen benützt. )
4-Eck
4-Seit
(Besitzt 4 Ecken und 6 Seiten; Gegenseiten sind je zwei Seiten, die keinen Eckpunkt gemeinsam haben. Drei Paare Gegenseiten. Daher auch drei Neben-Eckpunkte oder Diagonalpunkte, das sind die Schnittpunkte je zweier Gegenseiten.)
(Besitzt 4 Seiten und 6 Ecken; Gegenpunkte sind je zwei Ecken, die keine Seite gemeinsam haben. Drei Paare Gegenpunkte. Daher auch drei Nebenseiten oder Diagonalen, das sind die drei Verbindungslinien je zweier Gegenpunkte.)
B. Vollständige Figuren im Bündel.
a) Allgemein
n-Kant
n-Flach
[n Strahlen (Kanten) und Verbindungsebenen]
[n Ebenen und Schnittgerade]
b) Speziell
3-Kant Simplex der Ebene 3-Flach
4-Kant
4-Flach
(Besitzt drei Paare Gegenflächen und drei Nebenkantstrahlen oder Diagonalstrahlen.)
(Besitzt drei Paare Gegenkanten und drei Nebenflächen oder Diagonalflächen.)
C. Vollständige Figuren im Raum (R3).
a) Allgemein
Räumliches n-Eck
Räumliches n-Flach
[n Punkte, Verbindungsgerade und 4 Verbindungsebenen.]
[n Ebenen, Schnittgerade und Schnittpunkte.]
b) Speziell
Räumliches 4-Eck Simplex des Raumes Räumliches 4-Flach
(Besitzt 4 Ecken, 6 Verbindungsgerade und 4 Verbindungsebenen.)
(Besitzt 4 Ebenen, 6 Schnittgerade und 4 Eckpunkte.)
D. Vollständige Figuren im Raum (R4).
a) Allgemein
n-Zell
[Besitzt n Zellen, Ebenen, Gerade, Punkte]
b) Speziell
Simplex des R4 ist das sogenannte Fünfzell.
(Besitzt 5 Zellen, 10 Ebenen, 10 Gerade und 5 Punkte.)