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Curso de alemán para avanzados con audio/Lección 003b

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AB41 - AB46

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AB41

Der Buchstabe ß in verschiedenen Schrifttypen
ß (Teil 1)
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Das Schriftzeichen ẞ bzw. ß ist ein Buchstabe des deutschen Alphabets. Er wird als Eszett [ɛsˈt͜sɛt] oder scharfes S bezeichnet, umgangssprachlich auch als „Doppel-S“, „Buckel-S“, „Rucksack-S“, „Dreierles-S“ oder „Ringel-S“.
Das ß dient zur Wiedergabe des stimmlosen s-Lautes [s]. Es ist der einzige Buchstabe des lateinischen Schriftsystems, der heutzutage ausschließlich zur Schreibung deutscher Sprachen und ihrer Dialekte verwendet wird, so in der genormten Rechtschreibung des Standarddeutschen und in einigen Rechtschreibungen des Niederdeutschen sowie in der Vergangenheit auch in einigen Schreibungen des Sorbischen.
Historisch gesehen geht das ß in der deutschen Sprache auf eine Ligatur aus ſ „langes s“ (ursprünglich ein weiterer Buchstabe des deutschen Alphabets) und z zurück. Bedeutsam für die Form des ß in den heutzutage üblichen Antiqua-Schriftarten war jedoch auch eine Ligatur aus langem ſ und s, die bis ins 18. Jahrhundert auch in anderen Sprachen gebräuchlich war.
Das ß wird heute ausschließlich beim Schreiben in deutscher Sprache sowie im Niederdeutschen verwendet, allerdings nicht in der Schweiz und Liechtenstein. Deutsche Muttersprachler in Belgien, Dänemark (Nordschleswig), Italien (Südtirol) und Namibia gebrauchen das „ß“ in ihren geschriebenen Texten nach den in Deutschland und Österreich geltenden Rechtschreibregeln. Ebenso wird in Luxemburg verfahren.
Das ß dient überdies in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Texten als Abkürzung für die Währung Schilling und „ßo“ steht für das Zählmaß Schock.
Seit dem 29. Juni 2017 ist das große ß – ẞ – Bestandteil der amtlichen deutschen Rechtschreibung. Über seine Aufnahme in das deutsche Alphabet wurde seit Ende des 19. Jahrhunderts diskutiert.
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Entstehungsgeschichte
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Langes s, z und ß in Deutscher Kurrentschrift (1866)
Entstehung des ß in der deutschen Sprache
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Im Zuge der Zweiten Lautverschiebung im 7. und 8. Jahrhundert waren aus germanischem ​/⁠t⁠/​ und /tː/ zwei verschiedene Laute entstanden – ein Frikativ und eine Affrikate –, die zunächst beide mit zz wiedergegeben wurden. Zur besseren Unterscheidung gab es seit dem Althochdeutschen Schreibungen wie sz für den Frikativ und tz für die Affrikate.
Der mit ss geschriebene Laut, der auf ein ererbtes germanisches /s/ zurückgeht, unterschied sich von dem mit sz geschriebenen; das ss wurde als stimmloser alveolo-palataler Frikativ ​[⁠ɕ⁠]​ ausgesprochen, das sz hingegen als stimmloser alveolarer Frikativ [s]. Auch als diese zwei Laute zusammenfielen, behielt man beide Schreibungen bei. Man brachte sie aber durcheinander, weil niemand mehr wusste, wo ursprünglich ein sz gestanden hatte und wo ein ss.
Bei der Einführung des Buchdrucks im späten 15. Jahrhundert wurden Druckschriften aus den damals geläufigen gebrochenen Schriften geschaffen. Dabei wurde für die häufig auftretende Buchstabenkombination aus langem ſ und z mit Unterschlinge („ſʒ“) eine Ligatur-Letter geschnitten. Diese Ligatur behielt man auch bei später eingeführten Druckschriften wie der Fraktur bei.

AB42

Das „ß“ als „ſs“-Ligatur in einer Antiqua-Schrift sowie als „ſz“-Ligatur in Textura- und Fraktur-Schrift.
ß (Teil 2)
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Das ß in der Antiqua
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In einigen der ab dem 15. Jahrhundert entstehenden Antiquaschriften ist es eine Ligatur von langem ſ und rundem s. Für das deutsche Eszett der gebrochenen Schriften wurde erst im 19. Jahrhundert ein Antiqua-Gegenstück entworfen. Dagegen gibt es für eine ſs-Ligatur viel ältere Belegstellen. Die genaue Beziehung des Antiqua-ß zu Eszett und ſs-Ligatur ist umstritten.
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Die ſs-Ligatur in der Antiqua
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Wie schon die Antiqua selbst, entstand in Italien eigenständig eine kursive Ligatur aus langem ſ und rundem s, lange bevor das lange ſ im Laufe des 18. Jahrhunderts außer Gebrauch geriet. Die beiden Buchstaben wurden mit einem losen Bogen verbunden; dies war eine rein kalligrafische und typografische Variation ohne orthografische Funktion. Sie erscheint sowohl in Handschriften als auch im Druck bis Ende des 17. Jahrhunderts als eine Alternative für ſſ bzw. ss im Wortinneren. Die kursive Ligatur erscheint vor allem in Werken in lateinischer, italienischer und französischer Sprache.
Die ß-Ligatur in der Antiqua findet sich erstmals bei einer um das Jahr 1515 entstandenen Schrift von Lodovico Vicentino degli Arrighi. Er nimmt sie auch 1522 in sein Kalligrafielehrbuch La Operina auf. In der „lateinischen“ Alltagsschrift des 17. und 18. Jahrhunderts erscheint in Frankreich, England und eingeschränkt in Deutschland als Äquivalent zu ß die Ligaturform ſs, wobei das lange s die Schleifen erhielt. Im Druck lässt sich die kursive ß-Ligatur bis auf einige Seiten (f. 299v.–302v.) einer Livius-Ausgabe aus dem Jahre 1518 zurückverfolgen, wo sie in freier Variation zur ſſ-Ligatur steht, die auch im restlichen Werk exklusiv vorkommt. Die Ausgabe trägt das Zeichen von Aldus Manutius, erschien aber drei Jahre nach seinem Tod als Gemeinschaftsarbeit nach seiner Grundidee.
Im Jahre 1521 erschien in Basel eine deutsche Übersetzung (Leonis Judae) von Enchiridion militis Christiani von Erasmus von Rotterdam. Sie ist in einer Kursiv-Antiqua mit ß-Ligaturen gedruckt, wobei diese sich in Wortformen wie wyßheit, böß und schloß findet.
Bis weit in das 17. Jahrhundert hinein gehört es zu den typografischen Satzkonventionen in Italien, Frankreich und etwas weniger in Deutschland, vor allem in lateinischen, aber auch teilweise in italienischen und französischen Werken bei Antiquakursivsatz, die ß-Ligatur zu verwenden. Sie kommt auch auf einigen Titelblättern von um 1620 gedruckten Werken von Johannes Kepler vor.
Erst mit zunehmendem Druck deutscher Texte in Antiqua im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert erhielten auch gerade Antiquaschriften eine ß-Ligatur, die je nach orthografischer Konvention alternierend zu ſs- oder ss-Sequenzen verwendet wurde. Davor gab es vereinzelte Vorkommen dieser Typen.
Als die Nationalsozialisten in Deutschland im Jahr 1941 die Fraktur und sonstige gebrochene Schriften abschafften und die Antiqua als „Normal-Schrift“ einführten, wurde von den zuständigen Ministerien auch eine Abschaffung des ß in Antiqua beschlossen, da der Buchstabe im Ausland unbekannt und selten in Antiqua-Schriften vorhanden war. Hitler intervenierte aber. Aus einem Schreiben des Reichsministers der Reichskanzlei: „Der Führer hat sich für eine Beibehaltung des „ß“ in der Normalschrift entschieden. Er hat sich aber gegen die Schaffung eines großen „ß“ ausgesprochen. Bei der Verwendung großer Buchstaben soll das „ß“ vielmehr als „SS“ geschrieben werden.“

AB43

ß (Teil 3)
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Die deutsche Ersatzschreibung in Antiqua
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Antiquasatz
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In deutschem Antiquasatz wurde normalerweise bis ins 19. Jahrhundert an Stelle von ß entweder einfaches ss oder die Buchstabenfolge ſs (keine Ligatur) verwendet. Daneben traten nur selten die Sulzbacher Form des ß auf und – besonders in der von den Brüdern Grimm propagierten historischen Schreibweise – das sz. Die Verwendung von ſs erfolgte weiterhin, auch nachdem im Antiquasatz das gewöhnliche ſ im späten 18. Jahrhundert unüblich geworden war. Die Empfehlung der Orthographischen Konferenz von 1876 bestand darin, dass im Antiquasatz die Buchstabenfolge ſs verwendet werden sollte.
Das eigentliche ß im Antiquasatz kam erst im späten 19. Jahrhundert auf und ist dann mit der Orthographischen Konferenz von 1901 zur amtlichen Norm erhoben worden.
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Lateinische Schreibschrift
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Auch in lateinischer Schreibschrift (Kursive) wurde ß bis Ende des 19. Jahrhunderts gerne durch ſs wiedergegeben. Da das Lang-ſ der Kursive grafisch mit dem h der Kurrentschrift übereinstimmte, wurde die ſs-Gruppe der lateinischen Schreibschrift oft als hs missgedeutet, was sich in ungewöhnlichen Schreibweisen von Familiennamen niedergeschlagen hat, beispielsweise „Grohs“ statt „Groß“, „Ziegenfuhs“ statt „Ziegenfuß“, oder „Rohs“ statt „Roß“ (siehe dazu auch rechts das Bild: „Claßen in lateinischer Schreibschrift“).
Namensschreibungen wie die Variante Weiſs blieben aus juristischen Gründen auch nach 1901 in dieser Form erhalten und wurden durch keine Regel orthografisch angepasst. Im Deutschland der Zwischenkriegszeit waren alleine im standesamtlichen Bereich Schreibmaschinen in Verwendung, die ſs als Sondertype enthielten.
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Bild 1
Bild 1: Claßen (oben) in lateinischer Schreibschrift durch ſs wiedergegeben und als Gegenüberstellung Clahsen (unten) in der spitzen Kurrentschrift. Man sieht die Ähnlichkeit und damit die Verwechslungsgefahr des ſ (langen-s) der lateinischen Schreibschrift mit dem kleinen h, wie es in derselben Form in der spitzen Kurrentschrift verwendet wird.


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Das deutsche Eszett in der Antiqua
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Als im späten 18. und im 19. Jahrhundert deutsche Texte vermehrt in Antiqua gesetzt wurden statt in der allgemein üblichen gebrochenen Schrift, suchte man eine Antiqua-Entsprechung für das Eszett der gebrochenen Schrift. Die Brüder Grimm benutzten in der „Deutschen Grammatik 1. Band“ im Jahr 1819 noch die Fraktur, 1826 allerdings die Walbaum-Antiqua. In späteren Werken wollten sie dann das Eszett durch eine eigene Form des Buchstabens ersetzen, setzen aber schließlich sz in Ermangelung des ihnen vorschwebenden Druckbuchstabens.
Der Duden von 1880 empfiehlt, das Eszett in Antiqua durch ſs zu ersetzen, lässt aber ausdrücklich auch einen ß-artigen Buchstaben zu. Blei-Antiquaschriften wurden üblicherweise ohne ß ausgeliefert, so dass deutsche Texte aus dieser Zeit in Schweizer Satz erscheinen. Die Vereinheitlichung der deutschen Rechtschreibung von 1901 schrieb auch im Antiqua-Satz den Buchstaben ß vor. Schriftgießereien wurden verpflichtet, künftig bei Antiqua-Schriften ein ß mitzuliefern bzw. ein solches für Bestandsschriften nachzugießen.

AB44

ß (Teil 4)
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Bild 1: Glyphenvarianten des ß
Buchstabenform
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Für die Form der Glyphe eines Antiqua-Eszett gab es verschiedene schriftgestalterische Ansätze. Erst im Anschluss an die I. Orthographische Konferenz von 1876 gab es erfolgreiche Bemühungen um eine einheitliche Form. 1879 veröffentlichte das Journal für die Buchdruckerkunst eine Tafel mit Entwürfen. Ein Ausschuss der Leipziger Typographischen Gesellschaft entschied sich für die sogenannte Sulzbacher Form.
1903, nach der Entscheidung für eine einheitliche Rechtschreibung, erkannte eine Kommission von Buchdruckerei- und Schriftgießereibesitzern die Sulzbacher Form an. In einer Bekanntmachung in der Zeitschrift für Deutschlands Buchdrucker beschreiben sie die charakteristischen Merkmale dieser sz-Form: „Das sogenannte lange Antiqua-ſ wird oben mit einem z verbunden, im Kopfe eingebogen und läuft im unteren Bogen in eine feine oder halbstarke Linie oder in einen Punkt aus.“
Die Sulzbacher Form wurde und wird aber nicht von allen Typographen akzeptiert. Etwa vier Grundformen finden größere Verbreitung:
1.) Einzelbuchstaben „ſ“ und „s“ sind eng zusammengerückt
2.) Ligatur aus „ſ“ und „s“
3. Ligatur aus „ſ“ und z mit Unterschlinge („ʒ“)
4.) Sulzbacher Form
Heutzutage sind die meisten ß in Antiquaschriften entweder nach 2. oder nach 4. geformt, doch bisweilen findet sich auch eines nach 3., etwa auf Straßennamenschildern in Berlin und Bonn. Die Variante nach 1. wird selten verwendet.
Bild 2
Bild 2: Form 1: Langes und rundes s für ß in Pirna
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Bild 3
Bild 3: Form 1: Claßen in lateinischer Schreibschrift als Claſsen geschrieben, heute als historisches Firmenlogo, Köln Juli 2005
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Bild 4
Bild 4: Form 1 (links): Langes und rundes s für ß in „‑straſse“ und
Form 3 (rechts): ß-Ligatur aus ſ und ʒ in „‑straße“ auf emaillierten Straßenschildern in Mainz
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Archivo:Palatino1540.JPG
Bild 5
Bild 5: Form 2: Italienisches Schriftmuster von 1540:
Im Alphabet Ligatur aus langem und kurzem s,
im Titel aber „Esſempio“, Kurz-s-Lang-s
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Bild 6
Bild 6: Form 2: Schrift „Legende“ von Friedrich Hermann Ernst Schneidler
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Bild 7
Bild 7: Recklinckhuſen, Dorſten, Eßen. Blaeu-Atlas, Mitte 17. Jahrhunderts
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Bild 8
Bild 8: Form 3: Berliner Straßenschilder:
ß-Ligatur aus ſ und ʒ. Und tz-Ligatur aus t und ʒ nach einer Schrift von Herbert Thannhaeuser, 1930er Jahre.
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Bild 9
Bild 9: Form 3: Schrift FF Cst Berlin
in Anlehnung an Herbert Thannhaeuser
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Bild 10
Bild 10: Form 4: Hieronymus Aleander Mottensis, Tabulae utilißimae, Köln 1541
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Bild 11
Bild 11: Arial mehr ſs (wie Form 2),
Helvetica (Schriftart) mehr ſʒ


AB45

ß (Teil 5)
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Rechtschreibung
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Das ß dient der Wiedergabe des stimmlosen s-Lautes, der Fortis ​[⁠s⁠]​, dessen Darstellung durch s, ß und ss sich mit der Zeit gewandelt hat, zuletzt mit der Rechtschreibreform von 1996.
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Konzepte der s-Schreibung
Die Handhabung des ß gemäß den Regeln der Rechtschreibreform von 1996 folgt der sogenannten Heyseschen s-Schreibung, die von Johann Christian August Heyse im Jahr 1829 formuliert wurde.Von 1879 an galt sie in Österreich, bis sie im Rahmen der Vereinheitlichung der deutschen Rechtschreibung durch die Orthographische Konferenz von 1901 für Schulen und Ämter in deutschsprachigen Staaten ungültig wurde. Stattdessen galt ab dann die Adelungsche s-Schreibung des Orthographen Johann Christoph Adelung. Mit der Rechtschreibreform von 1996 wurde die Heysesche s-Schreibung in Österreich wiedereingeführt.
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Heutige Rechtschreibregeln
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Gemäß den Regeln der Rechtschreibreform von 1996 schreibt man ß für den stimmlosen s-Laut:
  • nach einem betonten langen Vokal: Straße, aßen, aß, Buße, grüßt;
  • nach einem (gleichermaßen als lang geltenden) Doppelvokal (Diphthong): heißen, außen.
Man schreibt aber s, wenn im Wortstamm ein Konsonant folgt:
  • Trost, Faust, räuspern, geistig.
Beim Vorliegen einer Auslautverhärtung schreibt man ebenfalls s, wenn der s-Laut in verwandten Wortformen stimmhaft ist:
  • (ich) nieste (niesen); Gras (Gräser); löslich (lösen); Aas (des Aases).
In der Schweiz und in Liechtenstein schreibt man statt ß immer ss.
Ausnahmen und Sonderfälle:
  • Eigennamen: Personen- und Ortsnamen werden von den obigen Regeln nicht berührt. So schreibt man weiterhin Theodor Heuss (trotz des Diphthongs) oder umgekehrt Schüßler-Salze, Litfaßsäule und ßlarn (trotz des kurzen Vokals).
  • Verschiedene Aussprachen schlagen sich in verschiedenen Schreibungen nieder: Sowohl ssboden als auch ßboden ist korrekt, da das ö kurz oder lang sein kann. Sodann schreibt man in Österreich Geschoß statt Geschoss, da dort das o lang ist; Ähnliches gilt für Spass als aussprachebedingte Variante von Spaß.
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Rechtschreibregeln von 1901 bis 1996
Nach den von 1901 bis 1996 gültigen Regeln schrieb man ß in denselben Fällen wie heute; zusätzlich stand ß statt ss am Wortende (auch in Zusammensetzungen): Kuß, kußecht, Paß, Paßbild sowie am Wortstammende, wenn ein Konsonant folgte: (du) mußt, (es) paßt, wäßrig, unvergeßne, Rößl.
In der Adelung'schen s-Schreibung richtet sich somit die Verteilung von ß und ss teils nach graphotaktischen Kriterien (Berücksichtigung der graphischen Umgebung: Wortende, Wortfuge oder folgender Konsonantenbuchstabe) und teils nach dem Kriterium der Aussprache (Berücksichtigung der Länge des vorangehenden Vokals). Wenn der s-Laut ambisyllabisch ist, steht ss.

AB46 - AB50

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AB46

ß (Teil 6)
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In der Schweiz und in Liechtenstein
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Anstelle von ß wird in der Schweiz und in Liechtenstein immer ss geschrieben. In diesen Ländern steht ss – im Gegensatz zu anderen Doppelkonsonantenbuchstaben – nicht nur nach Kurz-, sondern auch nach Langvokalen und Diphthongen. Wie bei anderen Digraphen (z. B. ch) ist die Länge oder Kürze des vorangehenden Vokals nicht erkennbar (Masse steht sowohl für Maße wie für Masse, Busse steht sowohl für Buße wie für Busse; vgl. hoch und Hochzeit, Weg und weg). Dem steht entgegen, dass in einer schweizerischen Aussprache solcher Wörter tatsächlich ein verdoppeltes s gesprochen wird, d. h. zwei [s]-Laute, die zu verschiedenen Silben gehören.
Die frühen Antiquadrucke kannten in der Schweiz wie auch in Deutschland kein ß. Im Bundesblatt der Schweizerischen Eidgenossenschaft fehlte nach der Umstellung von Fraktur auf Antiqua 1873 das ß zuerst, wurde aber bald darauf eingeführt, doch schon 1906 wieder aufgegeben. Der Beschluss der Zweiten Orthographischen Konferenz von 1901, ß auch für die Antiqua zwingend vorzuschreiben, fand in der Schweiz keine durchgängige Beachtung. In der Folge beschloss die Erziehungsdirektion (Kultusministerium) des Kantons Zürich in den Dreißigerjahren, das ß vom 1. Januar 1938 an in den kantonalen Volksschulen nicht mehr zu lehren; die anderen Kantone folgten. Als letzte schweizerische Tageszeitung entschied die Neue Zürcher Zeitung, die am 1. August 1946 von Fraktur auf Antiqua umgestellt hatte, ab dem 4. November 1974 auf das ß zu verzichten. Mit der Reform von 2006 wurde es auch offiziell für den amtlichen Schriftverkehr abgeschafft. Schweizer Verlage, die für den gesamten deutschsprachigen Markt produzieren, verwenden das ß jedoch weiterhin.
In der Schweiz war es in der Antiqua seit jeher üblich, ss in s-s aufzutrennen, auch wenn es für ein ß steht. Beispielsweise wird das Wort Strasse (für Straße) in Stras-se (für Stra-ße) getrennt. Diese schweizerische Trennung wurde mit der Rechtschreibreform von 1996 als allgemeine Regel übernommen (§ 108 (1996) bzw. § 110 (2006)).
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Ersatzformen
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Im deutschen Satz:
Heute darf nach der deutschen Rechtschreibung im Satz das ß nur dann durch ss wiedergegeben werden, wenn in einer Schrift oder einem Zeichensatz das ß nicht vorhanden ist. Manuskripte ohne ß müssen deshalb den Regeln entsprechend umgesetzt werden. In der Schweiz und in Liechtenstein kann das ß immer durch ss wiedergegeben werden.
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1.) Kleinschrift mit ß: Weißhausstraße
2.) Ersetzung durch ss (nur zulässig, wenn kein ß vorhanden, oder in der Schweiz und Liechtenstein): Weisshausstrasse
3.) Kapitälchen mit SS: WEISSHAUSSTRASSE
4.) Kapitälchen mit ß: WEIßHAUSSTRAßE
5.) Kapitälchen mit großen ß (ẞ): WEIẞHAUSSTRAẞE
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Im fremdsprachigen Satz:
Wenn ein deutsches Wort mit ß latinisiert wird oder wenn ein deutscher Name mit ß im fremdsprachigen Satz erscheint, bleibt das ß erhalten, z. B. Madame Aßmann était à Paris.

AB47

ß (Teil 7)
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Großschreibweise
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Es gab jahrhundertelang keine Großbuchstabenform des Buchstabens ß. Da das ß im Hochdeutschen nicht an einem Wortanfang stehen kann, wird ein solcher Großbuchstabe (Versal) ß im Hochdeutschen nur bei durchgängiger Großschreibung (Versalschrift) benötigt. Als Ersatz entstanden zunächst folgende orthographisch zulässigen Lösungsmöglichkeiten:
  • den Ersatz des ß durch SS (Regelfall)
  • die Verwendung des kleinen ß inmitten eines in Großbuchstaben geschriebenen Wortes (in Ausnahmefällen wie amtlichen Dokumenten)
  • den Ersatz des ß durch SZ (in Ausnahmefällen, bis 1996)
Heute gibt es die weitere Option:
  • das (große) ẞ
Seit dem 29. Juni 2017 ist das große ß (ẞ) offiziell Bestandteil der amtlichen deutschen Rechtschreibung. Damit ist seither zum Beispiel die Schreibweise STRAẞE gleichberechtigt neben der Schreibweise STRASSE zulässig.
Über Computer kann der Großbuchstabe ẞ meist durch Verwendung bestimmter Tastenkombinationen (je nach Tastatur/Computersystem unterschiedlich) eingegeben werden; Details siehe Hauptartikel.
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Besonderheiten der Verwendung
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Alphabetische Sortierung:
In der alphabetischen Sortierung (DIN 5007) wird das ß wie ss behandelt. Bei Wörtern, die sich nur durch ss bzw. ß unterscheiden, kommt das Wort mit ss zuerst, z. B. Masse vor Maße (DIN 5007, Abschnitt 6.1); der Duden weicht in dieser Hinsicht von der Norm ab: hier kommt das Wort mit ß zuerst.
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In Dokumenten:
Personen mit ß im Familiennamen haben häufig Probleme, da viele elektronische Systeme ß nicht verarbeiten können und man auf die Umschreibung ss ausweichen muss. Gerade in Personalausweisen und Reisepässen ist der Name dann in zweierlei Weise geschrieben, einmal richtig mit ß und in der maschinenlesbaren Zone (MRZ) mit Umschrift als ss, was besonders im Ausland für Verwirrung und Verdacht auf Dokumentenfälschung sorgt. Österreichische Ausweisdokumente können (müssen aber nicht) eine Erklärung der deutschen Sonderzeichen (auf Deutsch, Englisch und Französisch) beinhalten.
Es wird empfohlen, für Flugtickets, Visa usw. exakt die in der MRZ gebrauchte Schreibweise zu verwenden und sich im Zweifelsfall auf diese zu berufen.
Das deutsche Namensrecht (Nr. 38 NamÄndVwV) erkennt darüber hinaus Sonderzeichen im Familiennamen als Grund für eine Namensänderung an (auch eine bloße Änderung der Schreibweise, z. B. von Weiß zu Weiss, gilt als solche). Am 1. Oktober 1980 stellte das Bundesverwaltungsgericht noch einmal fest, dass die technisch bedingte fehlerhafte Wiedergabe von Sonderzeichen auf elektronischen Systemen ein wichtiger Grund für die Änderung des Familiennamens sein kann (der Kläger wollte die Schreibweise seines Namens von Götz in Goetz ändern, war aber damit zunächst beim Standesamt gescheitert; Aktenzeichen: 7 C 21/78).
Schon vor Einführung des großen ẞ wurde empfohlen, ß bei Familiennamen in Dokumenten aus Gründen der Eindeutigkeit auch als Großbuchstaben zu benutzen (z. B. HEINZ GROßE).
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Missverständnis bei der Wiedergabe des ß in Frankreich
Im fremdsprachigen Raum:
Wegen seiner optischen Ähnlichkeit zum ß und dem Fehlen auf der dort verwendeten Tastatur wird im Ausland manchmal fälschlicherweise der Großbuchstabe B als Ersatz verwendet, was für den deutschsprachigen Leser befremdlich wirkt.


AB48

ß (Teil 8)
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Englischsprachiger Raum:
Im englischsprachigen Raum, in dessen Alphabet der Buchstabe nicht vorkommt, wird das ß bei manchen wegen seiner Form umgangssprachlich als German B (deutsches B) bezeichnet. Deshalb wird das „ß“ auch von den meisten Englischsprechenden als „B“ gelesen, z. B. die Bezeichnung „Weißer“ als „Weiber“. So kommt es auch vor, dass das „ß“ einfach als „b“ wiedergegeben wird; zum Beispiel „Sesamstrabe“ in einem britischen Satelliten-TV-Programmheft, das auch das Programm deutscher Sender listet. Gelegentlich wird das ß auch mit dem griechischen Buchstaben β (beta) verwechselt.
Die korrekte Bezeichnung im Englischen lautet Sharp S oder Eszett wie im Deutschen.
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Ungarisch:
In leichter Abwandlung der deutsch-österreichischen Tradition wird das scharfe /s/ im Ungarischen als <sz> geschrieben.
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Ersetzung und ähnliche Zeichen
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Kann das Zeichen „ß“ nicht dargestellt werden, weil es in der verwendeten Schriftart oder dem Zeichensatz fehlt, so sollte es durch „ss“ ersetzt werden (aus „Straße“ wird „Strasse“). In den (behördlichen) Fernschreiben wurde das „ß“ bis in das frühe 21. Jahrhundert durch „sz“ ersetzt. Dies war unter anderem bei Familiennamen wichtig („Straßer“ wurde im Text zu „Straszer“). Im Fernschreibverkehr und bei Schreibmaschinen ohne ß-Letter wurde das „ß“ durch „:s“ ersetzt, um zwischen Familiennamen wie etwa Strasser, Straszer und Straßer zu unterscheiden. Die Ersetzung durch „β“ (Beta) oder „B“ ist nicht mehr üblich.
Da nahezu alle modernen Computersysteme und -schriften auf Unicode basieren, kann das Eszett heutzutage theoretisch weltweit dargestellt, verarbeitet, übertragen und archiviert werden. Eine Ersetzung aus technischen Gründen ist deshalb nur noch selten nötig. Auch wenn auf der verwendeten Tastatur das Zeichen nicht aufgedruckt ist, kann es meistens über eine entsprechende Tastenkombination des Betriebssystems oder des jeweiligen Texteditors eingefügt werden


AB49

Bleiletter und Druckbild einer ſi-Ligatur (langes s, i) in 12p Garamond
Holzlettern mit Ligaturen (von rechts nach links) fi, ff, ft, fl in 25 Cicero = 300 Punkt = 112,8 mm
Ligatur
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Eine Ligatur (auch Buchstabenverbund, mittellateinisch ligatura „Verbindung“, nach lateinisch ligatur (3. Pers. Singular, Präsens Passiv) „es ist verbunden“, von ligare – „binden, verbinden“) bezeichnet in der Typografie die Verschmelzung zweier oder mehrerer Buchstaben einer Satzschrift zu einer Glyphe. Auch in handschriftlichen Kurrentschriften kommen Ligaturen vor. Dort entstanden diese entweder durch schnelle Schreibweise häufig genutzter Zeichenkombinationen oder zur optischen Korrektur.
Im Satz werden Ligaturen heute vor allem verwendet, wenn zwei Buchstaben mit Oberlängen (z. B. f, i, l, t) aufeinander folgen, da ohne Ligatur eine Lücke zwischen den Buchstaben entstehen würde oder es bei Anwendung der Unterschneidung zu unschönen Verbindungen der Oberlängen käme. Im Bleisatz sind Ligaturen zur Ermöglichung von Unterschneidungen zwingend nötig. Menge, Art und Gebrauch der Ligaturen unterscheiden sich je nach Sprache und Schriftsystem.
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Ligaturen in einer Antiqua-Schrift mit langem Binnen-s (das seit seinem Verschwinden aus der Antiqua um 1800 üblicherweise nur in Fraktur-Schriften verwendet wird)
Zeichensatz
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Ligaturen vermeiden optische Lücken, die das Erscheinungsbild und die Lesbarkeit eines Texts stören. Sie werden vor allem im professionellen Satz verwendet, wurden aber aus zeitlichen und ökonomischen Gründen besonders im Zeitungssatz weggelassen. Ligaturen werden vor allem nach ästhetischen Gesichtspunkten gestaltet und nicht nur durch einfache Verringerung der Laufweite gebildet (siehe Abbildungen).
In deutschsprachigen Texten sind die Ligaturen ff, fi, fl, ft sowie deren Kombinationen (ffi, ffl und so weiter) geläufig, weniger üblich sind Ligaturen etwa von fk, fj, fh, fb, fz, ll, st, ch, ck, ct, th, tt, tz, kk, Qu, ſi, ſſ, ſt, ſch. Je nach Schriftart sind diese zudem selten Ligaturen im engeren Sinne, da die einzelnen Buchstaben nur zur Unterschneidung näher aneinander gerückt sind, aber keine tatsächliche Verbindung eingehen. Die Anzahl der Ligaturen ist bei verschiedenen Schriftarten unterschiedlich.
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Anwendung im Deutschen:
Im Deutschen werden Ligaturen nur gesetzt, wenn die zu verbindenden Buchstaben im gleichen Morphem liegen, beispielsweise im Wortstamm. Ligaturen werden in der Regel nicht gesetzt, wenn die Buchstaben über eine grammatikalische Fuge (z. B. eine Wortfuge) reichen. „Kaufläche“ (Kau-fläche) wird daher mit fl-Ligatur geschrieben; „Kauf‌leute“ hingegen nicht, weil die Buchstaben f und l verschiedenen Wortteilen (Kauf-leute) angehören. Eine Ausnahme bilden Nachsilben, die mit i beginnen (-ig, -in, -ich, -isch). Hier werden auch über die grammatikalische Fuge hinweg Ligaturen gesetzt. So wird beispielsweise „häufig“ trotz der Fuge (häuf-ig) mit fi-Ligatur geschrieben. Im Zweifel wird der Gliederung des Wortes nach Sprechsilben gefolgt und entsprechend die Ligatur gesetzt.
Die Anwendung von Ligaturen ist nicht verbindlich geregelt, generell folgt man dem Grundsatz: Getrennt gesprochene Buchstaben werden nicht in Ligatur gesetzt.
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oben: automatische, falsche fl-Ligatur („Kau·fleu·te“ oder „Kaufl·eu·te“).
unten: korrekt ohne Ligatur („Kauf·leu·te“)
Bleisatz:
Die Verwendung von Ligaturen hat im Bleisatz neben den ästhetischen auch technische Gründe. Ohne Ligaturen hätte man beim Buchstaben f nur die Wahl, ihn bündig auf den Kegel zu stellen, was ein den Lesefluss störendes ‚Loch‘ im Satzbild zur Folge hätte, oder ihn rechts frei über den Kegel hinausgehenzulassen, damit er zum Teil über den Kegel des nachfolgenden Buchstabens rage. Der so freigestellte Teil des f würde jedoch ohne den schützenden Kegel leicht abbrechen. Aus diesem Grund werden die betreffenden Kombinationen direkt zusammen auf einen Kegel gegossen
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Computersatz:
Der Computersatz erlaubt heute eine fast beliebige Positionierung der Buchstaben. Deshalb ist es möglich, den Abstand zwischen zwei Zeichen einzustellen und in vielen Fällen auf Ligaturen zu verzichten. Viele Schriftarten bieten spezielle Ligaturen an. Andere Ligaturen werden durch entsprechende Positionierung der typografischen Zeichen emuliert. Die ß-Ligatur wird als ein Buchstabe behandelt und standardmäßig verwendet.
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Zwangsligaturen ch, ck, , tz bleiben im gesperrten Satz erhalten.
Fraktursatz
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Im deutschsprachigen Fraktursatz gibt es eine Reihe von Ligaturen. Auch im Fraktursatz gilt in jedem Fall die Regel, dass eine Ligatur nicht über eine Wortfuge hinweg gesetzt werden darf (Beispiel: Ta-tz-e = tz-Ligatur, aber Lu-ft-z-ug = ft-Ligatur + z). Dies betrifft auch Familiennamen slawischer Herkunft auf -cky (z. B. Ranicky), die – entsprechend der getrennten Aussprache – nicht mit ck-Ligatur, sondern getrennten Lettern c und k geschrieben werden.
Im Sperrsatz werden die Ligaturen ch, ck, ſt und tz nicht gesperrt. Alle anderen üblichen Ligaturen (ff, fi, fl, ft, ll, ſi, ſſ, ſt, tt, seit Anfang des 20. Jahrhunderts auch ſch) werden gesperrt, also im Sperrsatz in Einzelbuchstaben aufgelöst. Bei ſt bestehe auch die Möglichkeit, dass es im Sperrsatz zwar nicht gesperrt, aber trotzdem aufgelöst werde. Das ß wurde schon im 19. Jahrhundert nicht mehr als Ligatur, sondern als Einzelbuchstabe begriffen und folglich auch nicht aufgelöst.
Die reformierte deutsche Rechtschreibung belebt im Bereich der s-Schreibung eine Idee aus dem frühen 19. Jahrhundert wieder, die sogenannte Heysesche s-Schreibung. Im Heyseschen Fremdwörterbuch taucht für Doppel-s am Wortende eine eigens geschaffene Ligatur ſs auf.
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Antiqua-ſs vs. Textura- und Fraktur-ſz
Die Ligatur w
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Der Buchstabe w hat sich als Ligatur aus zwei u bzw. v entwickelt. Bis ins Mittelalter wurde zwischen den Buchstaben u und v nur ästhetisch, nicht dem Lautwert nach unterschieden. In manchen Sprachen ist dieser Ursprung noch an der Buchstabenbezeichnung nachzuvollziehen (engl. double u „Doppel-u“, span. doble uve oder doble v „Doppel-v“, frz. double v „Doppel-v“).
Im Druck wurde das kleine w bei nicht vorhandener Letter auf verschiedene Weise realisiert, im Fraktursatz beispielsweise mit rundem r als „rv“.

AB50

Initiale „P“ aus einer Bibel in der Abtei von Malmesbury, England (1407)
Westliche Kalligrafie (Teil 1)
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Westliche Kalligrafie (griechisch κάλλος kállos „Schönheit“ bzw. καλός kalós „schön“, „gut“ und -grafie) bezeichnet die Schönschrift in lateinischen, griechischen oder kyrillischen Buchstaben und stellt eine eigenständige Kunstform dar. Sie hatte ihre Blütezeit im Hochmittelalter, als ein hoher Bedarf an Bibelabschriften bestand, und wird heute noch als entspannendes Hobby oder zu besonderen Anlässen ausgeübt. Kalligrafie wird in Europa und Nordamerika meistens mit einer Bandzugfeder, einer Schreibfeder mit breiter Spitze, betrieben.
Die Geschichte der Kalligrafie ist mit der Entwicklung der Schrift untrennbar verbunden. Dabei versteht man unter Kalligrafie nicht nur das Schreiben mit Pinsel oder Feder, sondern auch das kunstvolle Eingravieren von Texten in Holz, Stein oder Metall. Im Mittelalter erlebte sie in Europa eine Blüte, die, neben der starken Aktivität christlicher Klöster, mit der Gründung der ersten Universitäten und dem dadurch entstandenen Bedarf an Büchern zusammenhing. Mit dem Aufkommen des Buchdrucks tradierten Schreibmeister die Kunst, verschiedene Schriftstile von Hand zu schreiben. Heutzutage führt die Schreibkunst eher ein Schattendasein neben den anderen Kunstformen, dennoch finden sich immer wieder Beispiele für hervorragende und innovative handgeschriebene Schriftgestaltung.

AB51 - AB55

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Westliche Kalligrafie (Teil 2)
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Werkzeuge und Hilfsmittel
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Traditionelle Schreibgeräte
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Beschriebene Stoffe:
In der Antike und bis weit ins Mittelalter hinein war Papyrus das Maß der Dinge. Auf ihm wurden Urkunden festgehalten, Manuskripte verfasst und religiöse Texte verewigt. Das aus dem Papyrusmark hergestellte Blatt wurde meistens nur einseitig beschrieben und als Buchrolle gelagert. Durch geschickte Herstellung konnten Rollen weit über 20 Meter lang werden.
Diese unhandliche Art der Aufbewahrung wurde ab dem ersten Jahrhundert vom Codex abgelöst, der im Wesentlichen der heutigen Buchform entspricht. Das leichter faltbare Pergament, das langsam an die Stelle des Papyrus trat, förderte diese neue Form. Sein Ursprung lässt sich bis ins 3. vorchristliche Jahrhundert zurückverfolgen, bis in das griechische Pergamon, von dem sich auch der Name herleitet. Während der neue Beschreibstoff schon bald für Manuskripte Verwendung fand, wurde er für Urkunden nur zögerlich eingesetzt. So stieg der Vatikan erst unter Benedikt VIII. Anfang des 11. Jahrhunderts von Papyrus auf Pergament um.
Dieses ablehnende Verhalten wiederholte sich mit der Einführung des Papiers. Der vermutlich im alten China erfundene Beschreibstoff fand seinen Weg nach Europa über Arabien und Spanien, wo es die Mauren im 11. Jahrhundert einführten. Für Deutschland gilt das 1246 begonnene Registerbuch des Domherrn und Domdekans von Passau Albert Behaim als die erste Papierhandschrift. Wie zuvor das Pergament war das Papier lange Zeit als Träger für Urkunden verboten. Nach dem Statut von Padua von 1236 besaßen Urkunden auf Papier keine Rechtskraft. In den späteren Jahrhunderten führt die Verwendung von Papier selbst zum Zurückdrängen mancher Schriftarten, wie der Textura, die für Papier nicht sonderlich geeignet ist, zugunsten der Bastarda.
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Stifte und Federn:
Die Ägypter verwendeten Rohrfedern, um die hieratische Schrift auf Papyrus zu bringen. Die Hieroglyphen, die in den Stein gemeißelt wurden, haben eine signifikant andere Form. Das gleiche beobachtet man bei den Griechen und Römern. Die Formvollendung einer Capitalis monumentalis stammt von den Werkzeugen der Steinmetze. Die Schreiber nahmen dagegen einen Griffel (lat. stilus) für Wachstafeln oder angespitzte Schilfrohre (lat. calamus), in deren Spitze ein Spalt geschnitten wurde, um den Tintenfluss zu erleichtern. Ab dem 6. oder 7. Jahrhundert kamen Vogelfedern, besonders Gänsekiele, als Schreibwerkzeuge auf. Der Pinsel als Schreibgerät fand nur selten Einsatz, zum Beispiel bei goldenen Schriftzügen oder aufwändigen Initialen. Sehr wichtig war ein scharfes Messer, um die Schreibgeräte, deren Spitzen schnell abstumpften oder ausfransten, bei Bedarf wieder anspitzen zu können. Für das Ausbessern kleiner Schreibfehler hatten die Schreiber stets ein scharfes Messer, das rasorium, bereit, mit dem sie die entsprechenden Stellen vom Pergament abschaben konnten. Mit Einführung des billigen, aber wenig widerstandsfähigen Papiers wurde dies bald überflüssig.

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Westliche Kalligrafie (Teil 3)
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Das Härten des Gänsekiels:
Gänsefedern (Gänsekiele) werden, bevor sie zum Schreiben verwendet werden können, gehärtet. Das sogenannte „Ziehen“ der Federn erfordert einiges an Übung. Das Härten geschieht durch Erhitzen der Feder entweder in heißem Sand oder in heißer Asche, oder indem man den Kiel über einer starken Hitzequelle (kein offenes Feuer) so lange hin und her bewegt, bis er gleichmäßig erweicht ist. Ist die Hitze hierbei zu stark oder zu gering, erhält der Kiel im Anschluss nicht die notwendige Härte und wird beim Schneiden splittern und „Zähne“ bekommen. Sodann wird mit Hilfe eines Messers auf einer weichen Unterlage die oberste Haut des Kiels gleichmäßig auf allen Seiten abgeschabt. Anschließend muss der Kiel, solange er noch warm ist, wieder in seine ursprüngliche runde Form gedrückt werden. Das geschieht am leichtesten durch mehrmaliges Ziehen des Kiels durch ein weiches Tuch. Ist er so vorbereitet, kann er schließlich geschnitten werden. Für ein erfolgreiches Schreiben mit einem Gänsekiel musste die Schreibunterlage zwischen 40 und 60 % geneigt werden, damit die Tinte nicht zu schnell aus der Feder floss.
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Moderne Federn und Papiere:
Heutzutage werden Gänsefedern nur noch für besondere Aufgaben, z. B. besonders feine Linien, verwendet. Sie wurden von Stahlfedern abgelöst. Moderne Breit- oder Bandzugfedern verfügen über einen kleinen Tuschetank auf der Oberseite, der es erlaubt, mehrere Wörter zu schreiben, ohne erneut Tusche aufnehmen zu müssen. Die in Europa am weitesten verbreiteten werden von der Firma Brause hergestellt und sind in verschiedenen Strichbreiten von 0,5 mm bis 5 mm erhältlich.
Soll die Schrift einen speziellen Charakter erhalten, greifen moderne Kalligrafen auch auf Pinsel zurück oder konstruieren die Schrift mit Lineal und Bleistift. Daneben gibt es spezielle Kalligrafiefüller, die mit einer breiten Spitze ausgestattet sind. Sie erreichen meist nicht das Schriftbild einer Stahlfeder und sind teurer in der Anschaffung. Dafür erübrigt sich aufgrund der Tintenpatronen das häufige Nachfüllen von Tusche. Zudem ist ein breites Sortiment an Stiften, Tintenrollern, speziellen Rund- und Copperplatefedern im Fachhandel erhältlich.
Schreib- und Bastelläden bieten Tuschen und Tinten in ausreichend guter Qualität für die meisten kalligrafischen Belange an. Neben farbigen Tuschen ist auch Blattgold leicht zu bekommen. Als Beschreibmaterial dient heute meistens Papier. Besonders beliebt ist leicht marmoriertes Papier, die Elefantenhaut. Papyrus und Pergament sind zwar auf Bestellung erhältlich, allerdings zu Preisen, die ein normales kalligrafisches Projekt nicht rechtfertigt. Zudem ist Papier in vielen Fällen handlicher und durch die unterschiedlichen möglichen Farben und Strukturen vielfältiger einsetzbar.

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Westliche Kalligrafie (Teil 4)
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Bedeutende Schreibstuben des Mittelalters
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Handschriften und Miniaturen wurden im Mittelalter an vielen Orten angefertigt. Klöster hatten jedoch die Möglichkeiten, besonders hervorragende Werke zu schaffen. Einige wichtige Orte im deutschsprachigen Raum waren die Klöster Aachen, Seeon und St. Gallen in karolingischer Zeit und Mittelzell in Reichenau, Trier, Echternach, Köln, Fulda, Minden, Hildesheim, Magdeburg und Kloster Sankt Emmeram in Regensburg im Hochmittelalter.
Bei Untersuchungen von Wissenschaftlern in vielen Archiven des Mittelalters wie z. B. dem Domarchiv von Arezzo oder Klosterbeständen stellten sich im Laufe der letzten 100 Jahre etliche kostbare Handschriften und Urkunden als Fälschungen heraus, die im Nachhinein Gebietsansprüche oder Schenkungen rechtlich absichern sollten. 60 % aller Königsdokumente der Merowingerepoche wurden von Klöstern gefälscht, Mark Mersiowsky überprüfte Ende der 1990er Jahre die 474 erhaltenen Urkunden Ludwig des Frommen und sortierte alleine dabei 54 Diplome als Fälschungen aus, die zum Teil recht plump gediehen waren, aber nicht selten auch täuschend echte Dokumente, die in Schrift und Fertigung des Siegels nebst Schnuraufhängung annähernd perfekt waren: „Per Federstrich attestierten sich Klöster Zollprivilegien. Sie sackten riesige Ländereien ein, gewährten sich Steuerfreiheit oder Immunität. Machte ihnen der Adel Besitz streitig, konterten sie mit Pergamenten, an denen Kaisersiegel baumelten.“ Zu den kreativsten Fälschern zählten Wibald von Stablo, Vorsteher der sächsischen Reichsabtei Corvey, Petrus Diaconus, Bibliothekar aus dem Kloster Montecassino, und schließlich Guido von Vienne, der es dank seiner Beugung der Wahrheit sogar als Papst Kalixt II. 1119 zu höchsten Würden brachte. Übertroffen wurde jedoch alles von der sogenannten Konstantinischen Schenkung des 8. Jahrhunderts. Dieses vorgeblich aus dem 4. Jahrhundert stammende Dokument sollte der Kirche umfangreiche Gebiete weltlichen Besitzes sichern und den eigenen Machtanspruch des Papstes gegenüber dem Kaiser manifestieren.
Daneben wurden Handschriften auch von Privatleuten in Klöstern oder bei freien Künstlern in Auftrag gegeben. Im Namen reicher Adliger und Händler entstanden teure und berühmte Werke, z. B. das Stundenbuch Très Riches Heures des Herzogs von Berry.
Die Zunahme des Bücherbedarfs nach der Gründung der ersten Universitäten förderte die Entstehung privater Schreibstuben. Sie widmeten sich speziell den Lehrbüchern, die die Studenten benötigten, aber auch Andachtsschriften für Privatleute. Durch die neuen Werke der Professoren, die vervielfältigt werden mussten, war ihr Umsatz sichergestellt. Selbst die Klöster des Spätmittelalters stellten freie Schreiber ein und bildeten Nicht-Mönche aus. Als Ergebnis nahm die Qualität der Bücher oft in dem Maße ab, wie ihre Zahl anwuchs. Richard de Bury, Bischof von Durham, schrieb dazu im 14. Jahrhundert, die Mönche widmeten sich mehr dem Leeren der Becher als dem Schreiben von Codices.
Mit dem Aufkommen des Humanismus und des preiswerten Papiers als Beschreibstoff begannen Zeitgenossen, Werke selbst zu kopieren. Dies animierte findige Händler, Bücher der zeitgenössischen Literatur in hoher Zahl von vielen Schreibern preiswert abschreiben zu lassen und an eine bürgerliche Kundschaft zu verkaufen. Ihr Ruf war in den Kreisen gebildeter Bürger jedoch eher zweifelhaft.
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Der Buchdruck als Herausforderung
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Nach der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Johann Gutenberg im 15. Jahrhundert verloren handgeschriebene und handverzierte Bücher stetig an Bedeutung. Die Schönheit der bemalten und illuminierten Seiten wurde zugunsten der kostengünstigen Produktion einer hohen Auflage, die die neue Technik erlaubte, aufgegeben. Dennoch mussten viele Texte noch mit der Hand geschrieben werden. Diese Handschriften hatten auf die Entwicklung der Buchstabenformen für die Lettern der Drucker durchaus Einfluss. So entstanden in italienischen Kalligrafien zur Zeit der Renaissance die Antiqua und die humanistische Kursive, Schriften, die bis heute verwendet werden.
In Deutschland wurde auch im Druckereiwesen die gebrochene Schrift weiter verwendet. In der Form der Fraktur und Schwabacher, die sich aus den Bastardschriften und der Textura entwickelten, wurden sie bis in die 1940er Jahre verwendet.
Mit dem 16. Jahrhundert endet die Zeit der Codices und Miniaturen. Der Buchdruck setzt sich langsam auch im Bereich der Illustration teurer Werke durch, und selbst die spanischen und flämischen Künstler wenden sich der großflächigen Malerei zu.

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Westliche Kalligrafie (Teil 5)
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Schönschrift lernen
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Es gibt zwei wesentliche Wege, die Kalligrafie für sich zu entdecken. Zum einen autodidaktisch, indem man selbst experimentiert oder anhand eines Lehrbuchs lernt. Die zweite Möglichkeit sind Kalligrafiekurse von unterschiedlichen Trägern. Evangelisches und katholisches Bildungswerk sowie manche Volkshochschulen bieten Kurse zur Kalligrafie an, in denen man zumindest die grundlegenden Techniken erlernen kann.
Im Gegensatz zu vielen anderen Kunstformen benötigt man für den Einstieg lediglich eine Breitfeder und Tusche. Deshalb und wegen ihres entspannenden Charakters erfreut sich die Kalligrafie als Hobby steigender Beliebtheit. Die ersten Federstriche sind leicht erlernt, und angehende Kalligrafen können schon bald ihre ersten Resultate bewundern.
Jedoch bieten weitere Techniken immer weitere Herausforderung. Das Schrägstellen der Feder oder Variationen des Schreibwinkels zwischen der Grundlinie und der Feder sind selbst für einen geübten Schreiber nicht selbstverständlich. Und um die Gleichmäßigkeit der Buchstaben in einem großen Werk zu gewährleisten, muss er konzentriert bleiben und routiniert schreiben können.
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Kalligrafische Schriftarten
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Man kann seit den Ägyptern zwischen zwei Schriftstilen unterscheiden: Gerade und Kursivschriften. Gerade Schriften wurden in offiziellen Texten und religiösen Manuskripten verwendet, während die Kursivschriften sich meistens aus diesen bildeten, indem schneller geschrieben wurde. Dadurch entstanden Schriften für den täglichen Schriftverkehr, die schnell und praktisch waren, jedoch vielfach an Leserlichkeit einbüßten. Mit Beginn des Buchdrucks veränderte sich diese Aufteilung. Schrift und Kursive wurden im Drucktext verwendet, während sich für die Handschrift eigene Schreibschriften entwickelten, beispielsweise die Copperplate, unsere Lateinische Schreibschrift oder im Deutschland des 19. Jahrhunderts die deutsche Kurrentschrift.
Innerhalb der lateinischen Schrift wird weiterhin unterschieden zwischen Schriften, die nur aus Großbuchstaben (auch Majuskeln oder Versalien genannt) bestehen, etwa die Capitalis monumentalis oder die Unziale, den Schriften, die nur aus Kleinbuchstaben (auch Minuskeln genannt) bestehen, wie die karolingischen Minuskeln, und Schriften, die wie die Antiqua oder die Fraktur aus Groß- und Kleinbuchstaben bestehen. Letztere wurden erst ab dem 8. Jahrhundert verwendet, als Schreiber begannen, die Anfangsbuchstaben der Handschriften besonders zu kennzeichnen.

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Heysesche s-Schreibung
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Die heysesche s-Schreibung (benannt nach Johann Christian August Heyse, 1764–1829) ist eine Regel in der deutschen Rechtschreibung, die festlegt, ob der stimmlose Laut [s] als „ss“ oder als „ß“ (Eszett oder „scharfes S“, in Österreich durchgängig „scharfes S“ genannt) geschrieben wird, sofern er nicht als einfaches „s“ geschrieben wird. Diese wurde in Österreich-Ungarn bereits 1879 eingeführt, aber 1901 zu Gunsten einer gemeinsamen Rechtschreibung durch die damals im Deutschen Reich gültige adelungsche s-Schreibung ersetzt. In der Rechtschreibung gemäß der Rechtschreibreform von 1996 hat man sich erneut für die heysesche s-Schreibung entschieden. Die beiden Regeln unterscheiden sich nur in ihrer Entscheidung zwischen „ss“ und „ß“.
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Regeln
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Heyse
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Die Regel der heyseschen s-Schreibung für die Entscheidung zwischen „ss“ und „ß“ lautet:
  • Nach einem langen Vokal oder einem Diphthong schreibt man „ß“, nach einem kurzen Vokal schreibt man „ss“.
Damit nähert die heysesche Schreibung die Darstellung des stimmlosen s-Lautes derjenigen der übrigen Konsonanten an, dass nach kurzem betonten Vokal entweder ein Doppelkonsonant oder eine feste Konsonantenverbindung steht, nach langem Vokal dagegen ein Einfachkonsonant (als solcher wird das ß dabei aufgefasst), dem allerdings Konsonanten eines anderen Wortbestandteils folgen dürfen.
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Adelung (zum Vergleich)
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In adelungscher s-Schreibung gilt im Vergleich zur heyseschen s-Schreibung zusätzlich die graphotaktische Bedingung, dass am Wortende, vor einer Wortfuge und vor einem Konsonanten nie „ss“ geschrieben wird.
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Gemeinsamkeiten
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Sowohl in der heyseschen als auch in der adelungschen s-Schreibung besteht ein Zusammenhang zwischen der Aussprache des vorangehenden Vokals und der Schreibung des stimmlosen s-Lautes in denjenigen Fällen, wo dieser s-Laut eine neue Silbe beginnt. So unterschieden sowohl Heyse als auch Adelung:
„die Buße“ – „die Busse“ [Adelung: beides Singular, 1 = sein Standard, 2 = Buße in manchen Mundarten, namentlich die Schlesier]
„die Maße“ – „die Masse“
Ferner ist die Abgrenzung des als einfaches s geschriebenen stimmlosen s-Lautes bei Adelung und Heyse gleich. Einfaches s steht,
  • wenn das s vor Vokal stimmhaft wird, analog zu anderen stimmhaften Konsonanten („lesen / ihr lest“ wie „leben / ihr lebt“), wobei der vorangehende Vokal so gut wie immer lang ausgesprochen wird,
  • in fester Kombination mit einem Folgekonsonanten, wo ein stimmhaftes s nach deutschen Aussprachegewohnheiten unmöglich ist und der vorangehende Vokal so gut wie immer kurz ausgesprochen wird („Last“, „Knospe“),
  • in den festen Buchstabenkombinationen chs (sofern es [ks] ausgesprochen wird) und ps,
  • in aus, das, des, es, ist und den Suffixen -es, -s und -nis (Da schrieb Adelung noch -niſʒ und Heyse noch -niſs, allerdings jeweils mit Ligatur.),
  • in Fremdwörtern.
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Konvertierung zwischen heysescher und adelungscher s-Schreibung
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  • Ein Text in adelungscher s-Schreibung kann in heysesche s-Schreibung konvertiert werden, indem alle „ß“ nach kurzen Vokalen durch „ss“ ersetzt werden.
  • Ein Text in heysescher s-Schreibung kann in adelungsche s-Schreibung konvertiert werden, indem alle „ss“ am Wortende, vor einer Wortfuge oder vor einem Konsonanten, falls sie zur gleichen Silbe gehören, durch „ß“ ersetzt werden.
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Gefahr der Übergeneralisierung
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Die heysesche s-Schreibung führt gelegentlich zur Übergeneralisierung, weil sie dahingehend missverstanden wird, als laute die zugrundeliegende Regel:
Nach kurzem Vokal folgt immer „ss“, nach langem Vokal oder Doppelvokal folgt „ß“.
Schon zu Zeiten der adelungschen Schreibung verbreitete Fehler wie „Ausweiß“ oder „Ohne Fleiß kein Preiß“ können dadurch evtl. häufiger auftreten als bisher.
Beispiele für die falsche Anwendung der heyseschen s-Schreibung sind seit der Reform der deutschen Rechtschreibung von 1996 in der Presse und sogar in Schulbüchern zu finden, woraufhin einige Kritiker auf einen prinzipiellen Nachteil der heyseschen gegenüber der adelungschen s-Schreibung schlossen.
Kritiker dieses Standpunkts verweisen demgegenüber auf die drastische Zunahme von Rechtschreibfehlern in allen Bereichen der Orthographie. Demnach sei nicht die heysesche s-Schreibung die Ursache, sondern die starke Beschleunigung der Kommunikation insbesondere durch formlosere elektronische Medien wie E-Mail und SMS. In deren Folge habe das Bewusstsein für Orthographie generell stark abgenommen. Die Presse stehe zudem unter höherem Zeit- und Kostendruck und setze wesentlich weniger Korrektoren ein.
Kritiker bezweifeln, ob die heysesche s-Schreibung dazu beitragen kann, das korrekte Schreiben gegenüber der adelungschen s-Schreibung zu vereinfachen, wie bei ihrer (Wieder-)Einführung mit der Rechtschreibreform von 1996 in Aussicht gestellt wurde.

AB56 - AB60

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AB56

Adelungsche s-Schreibung
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Die adelungsche s-Schreibung (nach Johann Christoph Adelung, 1732–1806) ist eine Regel in der deutschen Rechtschreibung für die Schreibung der s-Laute. Häufig wird sie auf die Entscheidung reduziert, ob der stimmlose s-Laut ​[⁠s⁠]​ als „ss“ oder als „ß“ (Eszett) zu schreiben ist, sofern er nicht als einfaches „s“ geschrieben wird. Die adelungsche s-Schreibung wird in der traditionellen deutschen Rechtschreibung verwendet, nicht aber in der reformierten deutschen Rechtschreibung.
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Gemäß Adelung wird ß geschrieben
  • „nach einem gedehnten Vocal oder Diphthongen“ und
  • „am Ende einer Sylbe oder vor einem Consonanten“ (also auch am Wortende und vor der Wortfuge).
Die heysesche s-Schreibung unterscheidet sich dadurch von der adelungschen, dass die zweite Bedingung nicht gilt.
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Alternative Darstellungen der Regel
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Es ist möglich, die adelungsche s-Schreibung so zu formulieren, dass sie angibt, wann ss geschrieben wird, und nicht ß:
Nach einem kurzen Vokal schreibt man ss, unter der zusätzlichen Bedingung, dass im selben Wort unmittelbar ein Vokal folgt.
Eine gleichwertige Formulierung kann über eine Verwendung des Fachworts Silbengelenk erreicht werden, das einen vorangehenden kurzen Vokal und einen folgenden Vokal impliziert:
Im Silbengelenk schreibt man ss.
Das ist genau dann der Fall, wenn der s-Laut sowohl zum Ende der vorangehenden Silbe als auch zum Anfang der nachfolgenden Silbe gehört.
Beispiele: Wasser, wässerig, müssen, Klasse.
Wenn aber kein Silbengelenk vorliegt, dann steht dagegen statt ss ein ß.
Beispiele: wäßrig, muß, du mußt, Erstkläßler.
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Geschichte:
Die adelungsche s-Schreibung geht auf den Orthographen Johann Christoph Adelung (1732–1806) zurück. In verschiedenen Ländern wurde sie schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbindlich. Seit der Zweiten Orthographischen Konferenz von 1901 wurde sie im gesamten deutschen Sprachraum angewendet. Seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die adelungsche s-Schreibung in der Schweiz nach und nach aufgegeben und „ß“ stets durch „ss“ ersetzt. In der Rechtschreibreform von 1996 ist die adelungsche s-Schreibung durch die heysesche ersetzt worden.

AB57

(1) Oberlinie, (2) Mittellinie, (3) Grundlinie, (4) Unterlinie
(a) Oberlänge, (b) Mittellänge, (c) Unterlänge
Verschiedene Lineaturen mit Schriftbeispielen:
1. Sütterlin, 2. Offenbacher Schrift, 3. Offenbacher und Lateinische Ausgangsschrift, 4. Deutsche Kurrent
Lineatur
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Mit dem Begriff Lineatur ist im Allgemeinen die Linienvorgabe zum Beispiel in Schreibheften gemeint, um Schülern das Erlernen der grundsätzlichen Schriftform einer Schriftart zu erleichtern. Die Linienvorgabe bewegt sich dabei meist in einem Vierliniensystem, wobei Oberlänge, Mittellänge und Unterlänge in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen.
Verschiedene Linienverhältnisse wurden bereits von historischen Schriftentwicklern wie beispielsweise Rudolf Koch und Ludwig Sütterlin festgelegt.
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Linienverhältnisse
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Bekannt sind folgende Lineaturen bzw. ihre Vielfachen und die Schriftarten, die sich typischerweise in dieser Lineatur bewegen:
  • 1:1:1 Sütterlinschrift
  • 2:3:2 Offenbacher Schrift
  • 3:4:3 Offenbacher Schrift, Lateinische Ausgangsschrift
  • 2:1:2 Deutsche Kurrentschrift

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Bild 1: Verwendung eines Pangramms, um das Aussehen einer [Schriftart darzustellen
Bild 2: Pangramm
Pangramm
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Ein Pangramm (von griechisch πᾶν γράμμα pan gramma ‚jeder Buchstabe‘) oder holoalphabetischer Satz ist ein Satz, der alle Buchstaben des Alphabets enthält.
Als echt werden Pangramme bezeichnet, in denen jeder Buchstabe genau einmal vorkommt, die also gleichzeitig Isogramme sind. Echte Pangramme mit den 26 lateinischen Buchstaben sind sehr schwer zu erzielen, weil darin nur fünf (oder mit Y sechs) Vokale enthalten sind. Es gibt keine Sprache, für die eines bekannt ist, das nur aus Wörtern des tatsächlichen Sprachgebrauchs ohne Abkürzungen besteht.
Ursprünglich waren Pangramme lediglich eine mathematische Spielerei. Mit dem Aufkommen kodierter Textübertragung im zwanzigsten Jahrhundert wurden sie zu einem gebräuchlichen Instrument zum Testen der benutzten Geräte (z. B. Fernschreibverbindungen, Schreibmaschinen, Drucker). Dabei mussten zu dem im System verwendeten Zeichensatz (z. B. mit/ohne Umlaute, mit/ohne Großbuchstaben) passende Pangramme ausgewählt werden. Moderne digitale Kommunikationssysteme erledigen solche Tests automatisch. Pangramme werden seitdem überwiegend als Blindtext und zur Darstellung von Schriften eingesetzt.
Gewissermaßen ein Gegensatz zum Pangramm sind Leipogramme. Hier geht es darum, einen oder mehrere Buchstaben in einem Text überhaupt nicht zu verwenden, möglichst unter Beibehaltung der korrekten Orthografie.
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Sprachbeispiele
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Deutsch:
Ein in der deutschen Sprache oft verwendetes Pangramm ist der Satz „Franz jagt im komplett verwahrlosten Taxi quer durch Bayern“, der weder Umlaute noch das Eszett enthält. Ein verbreitetes Pangramm ohne diesen Mangel ist die Phrase „Zwölf Boxkämpfer jagen Viktor quer über den großen Sylter Deich“.
Die zusätzlichen Vokale Ä, Ö und Ü erleichtern im Deutschen die Konstruktion echter Pangramme mit Sonderbuchstaben, in denen bei 29 Buchstaben (oder 30 mit ß) kein Buchstabe doppelt vorkommt. So wurden 1981 in der DDR veröffentlicht:[1]
  • Vogt Nyx: »Büß du ja zwölf Qirsch, Kämpe!« („Qirsch“ ist ein arabisches Wort für Piaster, das allerdings nicht im Duden steht.)
  • Verbüß öd’ Joch, kämpf Qual, zwing Styx! („öd’“ allerdings mit Auslassungzeichen für weggelassene Buchstaben.)
Im Jahr 2003 wurde ein drittes in einer Newsgroup veröffentlicht:
  • „Fix, Schwyz!“, quäkt Jürgen blöd vom Paß. (Schwyz ist ein Schweizer Ort, dessen Mannschaft o. ä. hier angefeuert wird, Paß ein Übergang im Gebirge, allerdings nur nach alter Rechtschreibung gültig.)
In einigen Schreibmaschinen-Lernkursen (zum Erlernen des Zehnfingersystems) werden diese Sätze verwendet, ebenso wie der folgende: „Die heiße Zypernsonne quälte Max und Victoria ja böse auf dem Weg bis zur Küste.“
Für den Test von Fernschreibverbindungen war früher der Pangramm-ähnliche Satz „kaufen sie jede woche vier gute bequeme pelze xy 1234567890“ als „Kaufen-Schleife“ im Fernschreibnetz unter einer besonderen Rufnummer abrufbar. (Im Fernschreibalphabet gibt es keine Umlaute und kein ß.)
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Liste deutscher Pangramme
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Pangramme ohne Umlaute und ß:
  • Vogel Quax zwickt Johnys Pferd Bim. (29 Buchstaben)
  • Sylvia wagt quick den Jux bei Pforzheim. (33 Buchstaben)
  • Prall vom Whisky flog Quax den Jet zu Bruch. (35 Buchstaben)
  • Jeder wackere Bayer vertilgt bequem zwo Pfund Kalbshaxen. (49 Buchstaben)
  • Franz jagt im komplett verwahrlosten Taxi quer durch Bayern. (51 Buchstaben)
  • Bei jedem klugen Wort von Sokrates rief Xanthippe zynisch: Quatsch! (56 Buchstaben)
  • Stanleys Expeditionszug quer durch Afrika wird von jedermann bewundert. (62 Buchstaben)
Pangramme mit äöü, jedoch ohne ß (Schweizer Rechtschreibung):
  • „Üb jodeln, Gör!“, quäkt Schwyz’ Vamp fix. (29 Buchstaben)
  • „Ja!“, quäkt Schwyz’ Pöbel fix vor Gmünd. (29 Buchstaben)
  • Schwyz’ Vamp quäkt öd: „Fix, lob Jürgen!“ (29 Buchstaben)
  • Ob Schwyz’ Vamp dünkt „Fix, quäle Jörg“? (29 Buchstaben)
Pangramme mit äöü und ß:
  • Vogt Nyx: »Büß du ja zwölf Qirsch, Kämpe!« (30 Buchstaben, Währungsbezeichnung nicht im Duden)
  • Verbüß öd’ Joch, kämpf Qual, zwing Styx! (30 Buchstaben, mit Auslassungszeichen)
  • „Fix, Schwyz!“, quäkt Jürgen blöd vom Paß. (30 Buchstaben, alte Rechtschreibung)
  • Jux-Typ aß schäbig vor Zwölf-qkm-Düne. (30 Buchstaben, mit Abkürzung)
  • Jörg bäckt quasi zwei Haxenfüße vom Wildpony. (38 Buchstaben)
  • Zwölf laxe Typen qualmen verdächtig süße Objekte. (42 Buchstaben)
  • Üben von Xylophon und Querflöte ist ja zweckmäßig. (42 Buchstaben)
  • Typograf Jakob zürnt schweißgequält vom öden Text. (43 Buchstaben)
  • Typisch fiese Kater würden Vögel bloß zum Jux quälen. (44 Buchstaben)
  • Zwölf große Boxkämpfer jagen Eva quer über Sylter Deiche. (48 Buchstaben)
  • Falsches Üben von Xylophonmusik quält jeden größeren Zwerg. (51 Buchstaben)
  • Polyfon zwitschernd aßen Mäxchens Vögel Rüben, Joghurt und Quark. (55 Buchstaben)
  • Vom Ödipuskomplex maßlos gequält, übt Wilfried zyklisches Jodeln. (56 Buchstaben)
  • Xaver schreibt für Wikipedia zum Spaß quälend lang über Yoga, Soja und Öko. (61 Buchstaben)
  • Die heiße Zypernsonne quälte Max und Victoria ja böse auf dem Weg bis zur Küste. (65 Buchstaben)
  • Zornig und gequält rügen jeweils Pontifex und Volk die maßlose bischöfliche Hybris. (71 Buchstaben)
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In EDV-Anwendungen
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Pangramme dienen häufig als Beispieltexte, um verschiedener Schriftarten darzustellen und zu vergleichen.
In der deutschen Versionen von Windows-XP und Windows-Vista ist der Satz „Franz jagt im komplett verwahrlosten Taxi quer durch Bayern. 0123456789“ lokalisiert.


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Bild 1: Das ältere Futhark
Bild 2: Nordische Runenreihe
Runen
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Als Runen bezeichnet man die alten Schriftzeichen der Germanen. Der Sammelbegriff umfasst Zeichen unterschiedlicher Alphabete in zeitlich und regional abweichender Verwendung.
Runen können einerseits als Zeichen für jeweils einen Laut geschrieben werden (Alphabetschrift), andererseits als Zeichen stehen für die jeweiligen Begriffe, deren Namen sie tragen. Daneben können sie Zahlen darstellen oder als magisches Zeichen verwendet werden. Die Entwicklung der Zeichenformen zielte nicht auf eine flüssige Gebrauchsschrift ab. Abgesehen von einer kurzen Phase im hochmittelalterlichen Skandinavien wurde die Runenschrift nicht zur Alltagskommunikation verwendet.
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Verbreitung
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Runen waren vom 2. bis zum 14. Jahrhundert n. Chr. überwiegend für geritzte und gravierte Inschriften auf Gegenständen und auf Steindenkmalen in Gebrauch.
Ihre Verbreitung zeigt einen deutlichen Fundschwerpunkt in Südskandinavien (einschließlich Jütlands). Dies ist zum Teil durch die lokalen Traditionen von Runensteinen begründet. Runen waren durchaus auch entlang des Rheins, bei den Alemannen, in Bayern, Brandenburg, Thüringen sowie in Pommern, Schlesien und Böhmen begrenzt in Gebrauch, wobei sich die Funde im Norden und Osten grob vor der Völkerwanderung (200–500 n. Chr.), die im Süden und Westen zum Ende der Völkerwanderung (500–700 n. Chr.) einordnen lassen.
Die Christianisierung der Germanen, Nordmänner und Waräger führte letztendlich die lateinischen Buchstaben und in Russland die kyrillischen Buchstaben ein. Nur in den nordischen Ländern hielt sich der Gebrauch der Runenschrift bis ins 15. Jahrhundert.
Der weitaus größte Teil der gut 6.500 bisher bekannten Runeninschriften stammt aus dem Skandinavien der Wikingerzeit. Die ältesten Inschriften datieren aus dem 2. Jahrhundert und stammen aus Moorfunden in Schleswig-Holstein, in Jütland und Fünen in Dänemark und Südschweden, sowie aus Ostdeutschland, z. B. Brandenburg (Dahmsdorf) und Polen (Kowel, Rozwadów). In Deutschland und Polen wurden mit dem Aufschwung des Königreichs Preußen im 18. Jahrhundert vieles zugunsten der Landwirtschaft trockengelegt und abgetragen, sodass Runenfunde eher selten sind und sich vorwiegend auf wenige mobile Gegenstände beschränken.
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Runenkästchen von Auzon (spätes 7. Jahrhundert) mit altenglischen Stabreimversen in Runen, vordere Tafel: Szene aus der Wieland-Sage
Vorkommen
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Zu zusammenhängender Schrift sind die Runen von den Germanen des Kontinents nur in geringem Umfang gebraucht worden. Runensteine gibt es in Mitteleuropa nicht. Die einzigen dort erhaltenen Runenritzungen finden sich auf Schmuck, Waffen und (seltener) auf Gebrauchsgegenständen. Auch in England war die Verwendung von Runen zu diesem Zweck nicht häufig: Das umfangreichste Denkmal, die Inschrift auf dem Kreuz von Ruthwell, stammt bereits aus christlicher Zeit. Die Runenschnitzerei auf dem Walbeinkästchen von Auzon (auch: Franks Casket) gibt altenglische Stabreimverse wieder, die frühesten überhaupt überlieferten. Dieses in Nordengland um 650 entstandene Stück gehört zu den eindrucksvollsten kunsthandwerklichen Schöpfungen der germanischen Zeit.
Ein profaner Gebrauch war aber gerade in der Frühzeit gleichsam als Markenzeichen auf Gegenständen üblich. Formeln wie „(Name) machte …“ sind nicht selten. Damit kann ebenso der (Kunst)handwerker wie der Runenritzer seine Leistung bezeichnen. Ein besonderes Fundstück dieser Art ist eine Holzplatte aus dem Bootsgrab der Wurt Fallward (Cuxhaven). Dendrochronologisch ließ sich das Holz, das vermutlich als Oberteil eines Schemels diente, auf das Jahr 431 datieren. Der Besitzer, der möglicherweise in römischen Diensten stand, ließ auf der Kante die Inschrift ksamella lguskathi anbringen (scamella, lat. für Schemel). Kämme wurden gern als Kämme und Hobel als Hobel gekennzeichnet, was vielleicht einen spielerischen Umgang mit Schriftkultur bezeugt.

AB60

Armanen-Futhark als Zahl-
und als Buchstabenreihe
Runenesoterik
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Gegen Ende des 19. Jahrhunderts keimte in einigen esoterischen Kreisen Interesse für die Runen auf. Es waren vor allem völkisch-mystisch gesinnte Menschen, die die Runen in ihrem Sinne umdeuteten, ihnen magische Kraft zuschrieben und sich neue Runenalphabete ausdachten. Die völkische Bewegung verwendete nie die historischen Runen, sondern frei erfundene runenähnliche Zeichen. Der bedeutendste Impulsgeber war Guido von List (1848–1919), ein österreichischer Romantiker und Mitgründer der rechtsesoterischen Ariosophie. Er empfing den Großteil seines okkulten „Runenwissens“ nach eigenem Bekunden in Form von Visionen und galt seinen Anhängern als eine Art Prophet. Er postulierte eine pseudohistorische Priesterschaft sogenannter Armanen, die in diese Geheimnisse eingeweiht gewesen seien, und sein frei erfundenes Futhark, das sich nur lose auf das jüngere Futhark stützt, wurde daher auch Armanen-Futhark genannt. List postulierte des Weiteren ein Urvolk mit eigener Ursprache namens „Ariogermanen“. Er behauptete, dass dieses Volk, diese reinblütige „Rasse“ von blonden, blauäugigen Menschen, schon seit Urzeiten ein 18 Runen umfassendes Schriftsystem benutzt habe.
Bis in die 1970er Jahre arbeitete die Runenesoterik fast ausschließlich mit diesem Armanen-Futhark. Spätere Autoren stützten sich auf dieses Futhark, so etwa Karl Maria Wiligut (besser bekannt als Sturmbannführer Weisthor), der „Rasputin“ Himmlers, und Friedrich Bernhard Marby, der Erfinder der Runengymnastik (auch als Runenyoga bekannt), bei dem die auszuführenden Figuren jeweils Runen symbolisieren und mit dem der „rassenbewusste nordische Mensch“ seinen Geist und Körper veredeln sollte.


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